Die Notwendigkeit, neue Regelungsmodelle für offene Fragen und Problemstellungen im Internet zu finden, setzt Politik, Justiz und Gesellschaft unter erheblichen Handlungsdruck. Im Wochentakt gibt es europaweit von allen Seiten neue Vorschläge für Regulierungs-, Abgaben- oder Haftungsmodelle. Ziel dabei ist immer, möglichst einfache und politisch gut verkaufbare Konzepte zu präsentieren, die einen vermeintlichen Lösungsweg aus dem Dilemma zwischen schnellen Innovationen und langsamen Gesetzgebern auf der einen und nationalen Regelungen versus internationale Herausforderungen auf der anderen Seite weisen. In vielen Fällen werden dabei aber zu viele Themen über einen Kamm geschert. Zudem wird schlicht nicht in der nötigen Tiefe und Breite eruiert, wie der Regelungsgegenstand eigentlich genau aussieht und welche rechtlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen das jeweilige Modell haben könnte. Funktionsfähige Lösungen existieren bislang kaum. Unser Projekt „Braucht Deutschland einen Digitalen Kodex?“, das der Think Tank iRights.Lab im Auftrag des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet durchführt, startet deswegen nun in die zweite Phase.
In einem aufwendigen Prozess mit umfangreichen inhaltlichen Erörterungen, intensiven Gesprächen mit Akteuren und gesellschaftlich relevanten Mitspielern, sowie begleitet von einer hochrangigen Expertengruppe, setzen wir uns bis zum Herbst 2015 mit den beiden Brennpunktthemen „Recht auf Vergessenwerden“ und „Big Data“ auseinander. Ziel des Projekts „Digitaler Kodex“ ist dabei, anhand von praktischen Beispielen zu eruieren, ob es neben der gesetzlichen Regulierung und industriellen Selbstverpflichtungen weitere Modelle zur Problemlösung gibt.
„Das Internet vergisst nichts“ – diese Mahnung, meist mit erhobenem Zeigefinger, soll dafür sensibilisieren, dass Informationen im Internet dauerhaft zugänglich sind. Daran hat sich auch durch die viel diskutierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) im Mai 2014 zum sogenannten „Recht auf Vergessenwerden“ nichts geändert. Das Gericht hatte einem Antragsteller recht gegeben, dass Google in seinem Suchmaschinenangebot Links löschen muss, die zu Seiten führen, auf denen aus Sicht des Klagenden sensible persönliche Informationen des Antragstellers zugänglich waren.
Dieses „Recht auf Vergessenwerden“, das durch die Entscheidung indirekt eingeräumt wird, ist dabei aber vielmehr ein „Recht auf erschwerte Auffindbarkeit“. Denn löschen muss Google nur die Verlinkung, während die Originalquelle bestehen bleibt und jederzeit auf anderen Seiten erneut verlinkt und dadurch verbreitet werden kann. Was zunächst also wie eine bahnbrechende Entscheidung zugunsten von Nutzern klingt, entpuppt sich auf den zweiten Blick als vordergründige Symptombehandlung, die dabei massive Implikationen für Gesellschaft und Wirtschaft beinhaltet, die in ihren Folgen derzeit nur schwer abgeschätzt werden können.
Rund ein halbes Jahr nach dem Richterspruch in Luxemburg sind laut Google europaweit mehr als 162000 Anträge auf Löschung eingegangen, die insgesamt rund 545 000 einzelne Webseiten betreffen. Circa 27 000 dieser Anträge kommen dabei aus Deutschland.
Der EuGH hat mit seinem Urteil dem Unternehmen Google die Aufgabe übertragen, in jedem einzelnen Fall zu entscheiden, ob es die beantragte Löschung vornehmen muss – oder auch nicht. Dabei gilt aber die Maßgabe: Privates Interesse geht dem öffentlichen Interesse an der Auffindbarkeit der Quelle via Google vor. Ein Zustand, der massiver Kritik unterliegt. Konnte man kurz nach dem Richterspruch vielfach euphorische Stellungnahmen aus der Politik hören, dass das Gericht endlich ein wirksames und sinnvolles „Recht auf Vergessen“ etabliert habe, so wird langsam deutlich, dass der liebliche erste Schluck des Weines in der Zeit danach zu erheblichen Kopfschmerzen geführt hat. Es ist mehr als ein schaler Beigeschmack, den das Urteil ausgelöst hat. Ob manuell oder automatisch: In jedem einzelnen Fall entscheiden privatwirtschaftliche Suchmaschinenbetreiber allein und für die Öffentlichkeit intransparent über die Informationsfreiheit von Bürgern und Presse. Dieser Zustand ist nicht akzeptabel. Es braucht einen neuen gesellschaftlichen Dialog über die Art und Weise, wie mit dieser Problematik umgegangen werden soll. Das Projekt zum „Digitalen Kodex“ soll dabei einen wichtigen Beitrag leisten. Fragen, die im Prozess debattiert werden, sind beispielsweise:
Der „Digitale Kodex“ bietet die Möglichkeit, zusammen mit vielen Beteiligten diese und weitere Fragen intensiv zu erörtern und zu überlegen, wie ein neuer gesellschaftlicher Umgang mit diesem Thema aussehen kann.
In einem parallelen Prozess werden wir uns, ausgehend von praktischen Anwendungsfällen beispielsweise aus dem Bereich der Mobilität oder auch der Gesundheit, mit der Frage beschäftigen, wie ein gesellschaftlicher Umgang mit großen Datenmengen intelligent geregelt werden kann. Seit ein paar Jahren impliziert der Modebegriff „Big Data“ sowohl große Gefahren des Missbrauchs durch das unkontrollierte Verknüpfen und Verwenden von Daten, wie gleichzeitig auch das Versprechen, durch neue Anwendungs- und Wirtschaftsbereiche das alltägliche Leben der Menschen deutlich zu verbessern.
Das Spannungsfeld ist bis heute ungelöst. Insbesondere auch aufgrund der Tatsache, dass ein und derselbe Datensatz in gesellschaftlich gewünschter oder ungewünschter Weise mit einem anderen verknüpft werden kann. Doch was ist eigentlich gesellschaftlich erwünscht? Wie kann ein Modell entwickelt werden, dass die ethischen und ökonomischen Pole in diesem Spannungsfeld neu beschreibt und definiert? Im Projekt werden wir uns die Zeit nehmen, diese Fragen zu stellen und zu diskutieren. Ziel ist, ein neues und intensiveres Verständnis für einen sinnvollen Umgang mit „Big Data“ zu finden.
Mit dem Prozess um die Frage nach einem „Digitalen Kodex“ wollen wir einen wesentlichen Beitrag zu den Debatten über diese Problemkreise leisten. Bewusst lassen wir uns dabei nicht von tagesaktuellen Entwicklungen treiben, sondern bemühen uns, mit ruhiger Hand mehr Tiefe und Analyse der bestehenden Problemfelder zu schaffen, mit anderen Mitspielern zu diskutieren und Lösungswege zu eruieren und kompakt darzustellen. Es ist ein offener Prozess, bei dem wir uns über die Beteiligung von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft freuen. Die komplexen Fragen mit einem Federstrich auf einem weißen Blatt Papier lösen zu wollen, grenzt an Unvernunft, deswegen nehmen wir uns Zeit und wollen bis zum Herbst 2015 erste Ergebnisse in Papierform vorlegen.
Auf dem Weg dahin werden wir gezielt das Gespräch mit vielen Beteiligten suchen, die alle für sich, ob als direkt Betroffene oder als Beobachter, einen oftmals ebenfalls differenzierten Blick auf die Entwicklungen und die dahinterliegenden Fragen haben. Um Antworten zu finden, gilt es einerseits, die politische Entwicklung und die Grundlagen, auf denen diese möglich ist, genau zu betrachten. Sehr schnell wird klar, dass wir nicht nur mit singulären Fragestellungen, sondern mit multiplen Problemlagen konfrontiert sind. Lösungsansätze dürfen sich deswegen nicht nur auf scheinbar einfache Slogans konzentrieren, sondern müssen standhaft ausgestaltet sein.