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Gebietet es die staatliche Schutzpflicht für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, Edward Snowden die Einreise nach Deutschland zu gestatten? Dr. Thilo Weichert, Landesbeauftragter für Datenschutz, kommt nach einer Analyse der einschlägigen Rechtsprechung zu diesem Ergebnis.
So formuliert das Bundesverfassungsgericht zur Vorratsdatenspeicherung im Jahr 2010: „Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität …, für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss.“ Damit rückt die staatliche Schutzpflicht im Internet zunehmend in das Interesse grundrechtlicher Betrachtungen.
Offensichtlich ist die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte nicht in der Lage, hinreichenden Schutz zu vermitteln. Im Netz sind es vor allem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, auf Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Meinungsfreiheit, die von dritter – nicht unmittelbar grundrechtsgebundener – Seite (private Dritte oder ausländische staatliche Stellen) beeinträchtigt werden. Cybermobbing, ungewollter Umgang mit personenbezogenen Daten, Zugriffe auf die Systeme der Nutzer durch Apps und Zensur in sozialen Netzwerken sind nur einige Problemfelder.
Wie kann nun aber die Schutzpflichtdimension der Grundrechte aktiviert werden, um den beklagten Defiziten zu begegnen? In rein nationalen Sachverhalten wären solche kaum auszumachen; die genannten Fallgruppen ließen sich einer adäquaten Lösung zuführen. Für den hypothetischen Fall der vollständigen Beherrschbarkeit des Internets durch einen Nationalstaat käme es auch nicht zu Durchsetzungs- und Vollzugsdefiziten. Angesichts der Charakteristika des Internets (Staatsferne, Anonymität und Unkörperlichkeit, Globalität und Ubiquität, technische Komplexität) sind Beherrschbarkeit und nationale Steuerungskraft jedoch kaum (mehr) gegeben, die Mehrzahl der relevanten Kommunikationsbeziehungen ist nicht rein national zu erfassen. Die genannten Szenarien unterliegen nicht der deutschen – grundrechtlich geprägten – Rechtsordnung, können nicht über verfassungsrechtliche Rechtsinstitute befriedet werden und bewegen sich oft nicht einmal in einer konsentierten außerrechtlichen, sozialethischen Grundvorstellung.
War es früher insbesondere das Recht als Steuerungsressource, welches zum Ausgleich herangezogen werden konnte, rückt dieses immer mehr in den Hintergrund. Einerseits unterliegen viele Sachverhalte nicht ausschließlich dem deutschen, ggf. nicht einmal dem europäischen Rechtsregime; andererseits fehlen effektive Durchsetzungsmöglichkeiten. Die überkommenen Handlungsinstrumente sind im digitalen Raum nicht nur ineffektiv, sie sind überdies zum Teil auch rechtlich wie tatsächlich unmöglich.
Diese Erkenntnis bedeutet indes nicht, dass der Staat in zulässiger Weise untätig bleiben darf. Der Staat muss den Wandel berücksichtigen und andere Instrumente als in der Vergangenheit in den Mittelpunkt rücken.
Angesichts der begrenzten Steuerungsfähigkeit und Durchsetzbarkeit des Rechts dürften tatsächliche Maßnahmen, die eher in rein nationalen Zusammenhängen realisiert werden können, erfolgversprechender sein. Der Bürger muss zwar auch selbst Maßnahmen zur Eigensicherung ergreifen; gleichwohl kann aber der Staat abseits rechtlicher Reglementierung tätig werden, um die Wirkung der Grundrechte auch im Internet zu verbessern.
Globale Kommunikationsströme bedürfen eines globalen Schutzes. Referenzgebiet ist der Klimaschutz. Globale, völkerrechtliche Lösungen haben das Potenzial, wesentlich effektiver zu wirken. Internationale Vorschriften zu einem achtungsvollen, die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht respektierenden Umgang im Internet könnten daher zielführend sein. Denkbar sind völkerrechtliche Verträge, bspw. in Form eines auch von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel ins Gespräch gebrachten globalen Datenschutzabkommens oder einer Fortschreibung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte für die digitalisierte Welt. Bei veränderten internationalen Rechtsregeln handelt es sich im Ergebnis zwar um eine rechtliche Reaktion. Das Verhalten, welches unter Berufung auf grundrechtliche Schutzpflichten gefordert werden kann (im Sinne des BVerfG: der Einsatz für die Wahrung der verfassungsrechtlichen Identität in europäischen und internationalen Zusammenhängen), besteht darin, entsprechende Initiativen tatsächlich anzustoßen bzw. zu unterstützen.
Zielführend kann es auch sein, gemeinsam mit allen Akteuren der Internetkommunikation, mit Anbietern und Nutzern, Modelle des technischen Datenschutzes und einer Kompensation der unvermeidbaren Folgen für Opfer zu entwickeln. Hierzu sind Verhandlungen mit ausländischen Anbietern von Webdiensten (vor allem solchen, die ihren Sitz außerhalb der EU haben) erforderlich. Zielsetzung könnten überdies eigens auf bestimmte Rechtsräume oder Nutzergruppen (bspw. die öffentliche Verwaltung) zugeschnittene Nutzungsbedingungen oder Selbstverpflichtungen sein.
Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung sind bspw. im Wirtschafts- und Umweltrecht ein Mittel zur Erreichung von Zielvorgaben, die gesetzlich nur in begrenztem Rahmen durchgesetzt werden können. Sie belassen den Betroffenen die Freiheit, zwischen verschiedenen mehr oder weniger beeinträchtigenden Verhaltensweisen zu wählen. Im Wege ökonomischer Anreize oder durch Informationen ließe sich so auf die Motivation der Akteure – Plattformbetreiber, Provider, Internet-Unternehmen etc. – Einfluss nehmen, dass sie bei der Ausgestaltung ihrer Dienste grundrechtsschonenden Varianten den Vorzug geben.
Die Diskussion zur Medienkompetenz fokussiert oft unrichtigerweise ausschließlich Jugendliche. Aufklärung über grundlegende technische Vorgänge würde aber grundsätzlich helfen, bspw. Selbstschutz hinsichtlich des Umgangs mit den eigenen Daten im Netz zu üben. Bei Maßnahmen zur Steigerung der Medienkompetenz ist aber ebenso wie bei der Aufklärung zunächst ein Ziel festzulegen: So ist im Kontext des Datenschutzes die oft geforderte Grundeinstellung Privacy by default von einer bestimmten Grundhaltung geprägt – die Vertreter der Post-Privacy dürften ein anderes Ergebnis für zielführend halten. Der Staat sollte sich neutral auf die Vermittlung – auch technischer – Kompetenzen beschränken.
Wirksamer Grundrechtsschutz lässt sich auch durch geeignete Infrastrukturen absichern, bspw. durch Dienste, die eine vertrauensvolle Kommunikation oder die sichere Speicherung von Daten gewährleisten. Ein Hemmnis staatlicher Dienste ist aber die oft fehlende Akzeptanz. Eine Option, dem staatlichen Schutzauftrag dennoch nachzukommen, ist die Kontrolle der im Markt vorhandenen Anbieter und deren Produkte durch Akkreditierung. Für die Anbieter besteht so die Möglichkeit, die Erfüllung gesetzlicher Mindestanforderungen durch ein Gütezeichen nachzuweisen. Besonders auf komplexen und grundrechtsrelevanten Gebieten kann ein solches Bedeutung erlangen, wenn die Nutzer technische Prozesse nicht überschauen.
Trotz dieser Maßnahmen können sich Betroffene im Internet – solange es an internationalen Regelungen fehlt – bei Internetsachverhalten nicht in gleicher Weise auf die Garantenstellung des Staates verlassen. Entsprechende Erwartungen dürften enttäuscht werden. Vergegenwärtigen sollte man sich aber auch, das, wer die Vorteile der Globalisierung, der zunehmenden Vernetzung, der auf Ubiquität und Raum- und Zeitunabhängigkeit basierenden Dienste nutzt, im Gegenzug nicht in gleicher Weise Schutz des Staates beanspruchen kann wie in rein nationalen Sachverhalten.