„Vorläufer“. Schmidt, Honecker und Ford unterzeichnen das KSZEAbkommen, „Inspiration“ für eine mögliche Digitalcharta. (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-P0801-026 / CC-BY-SA 3.0)
Seit seiner Erfindung galt das Internet als ein Wegbereiter der Demokratie. Das Internet ermöglicht, wovon die UN-Menschenrechtsdeklaration 1948 träumte. In Artikel 19 wird dort nicht nur das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung fixiert, es wird auch hinzugefügt, dass dieses Recht „unabhängig von Grenzen“ existiert. Damals eher eine Utopie. Heute hat das Internet tatsächlich die Grenzen von Raum und Zeit besiegt. Jeder kann mit jedem jederzeit an jedem Ort kommunizieren.
Doch wie alles hat auch das Internet seine Schattenseiten. Es hat neue Freiheiten geschaffen, aber auch Missbrauchsmöglichkeiten vergrößert. Kriminelle machen sich im Cyberspace breit. Es droht ein globaler Cyberkrieg. „Fake News“ und „Hate Speech“ sind für die Demokratie ein „Stresstest“. Was wir an Selbstbestimmung gewonnen haben, scheinen wir mit einem dramatischen Kontrollverlust über unsere Privatsphäre und mit neuer globaler Instabilität bezahlen zu müssen.
Verkehren sich die Versprechungen des Informationszeitalters in ihr Gegenteil? Wird das Internet zu einer Gefahr für die Demokratie?
Die Tatsache, dass Fortschritt seinen Preis hat, kann nicht überraschen. Aus der Technologiefolgeabschätzung der 1980er-Jahre wissen wird, dass mit wachsender Komplexität neuer Technologien sich das „Fenster der Verwundbarkeit“ weiter öffnet. In den 1940er-Jahren hat Joseph Schumpeter seine Theorie der „konstruktiven Zerstörung“ entwickelt. Und als sich Karl Marx vor mehr als 150 Jahren mit den Folgen der industriellen Revolution auseinandersetzte, schrieb er sarkastisch: „In unseren Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen.“ Noch vor 20 Jahren beherrschten optimistische Szenarien die Diskussion. John Peter Barlow beschrieb in seiner „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ eine „neue Welt“ von Freiheit und Selbstbestimmung. 20 Jahre später ist Ernüchterung eingezogen. Die „alte Welt“, in der es um Macht und Geld ging, ist nicht verschwunden, sie ist in der „neuen Welt“ aufgegangen. Und so tauchen alle Konflikte des 20. Jahrhunderts nun in einem „Digitalgewand“ wieder auf. Unsere Sicherheit hängt von der Cybersicherheit ab. Die Wirtschaft ist eine digitale Wirtschaft. Und die Gewährleistung der individuellen Grundrechte ist nun online bedroht.
Dennoch unterscheidet sich natürlich die digitale Cyberwelt des 21. Jahrhunderts von der analogen Welt des 20. Jahrhunderts. Ein Cyberkrieg mit Cyberwaffen ist kaum mit einem Atomkrieg vergleichbar, kann aber ebenso dramatische Folgen haben. Die Digitalwirtschaft schafft zwar neue Jobs, sie zerstört aber auch viele und hebelt traditionelle Wertschöpfungsketten aus. Globales und Lokales mischt sich in einer schwer zu definierenden „Glocalization“, die soziale Spaltungen vertiefen und individuelle Rechte bedrohen kann.
Das gilt insbesondere für das Recht auf freie Meinungsäußerung und den Schutz der Privatsphäre.
Das Internet hat grenzenlose Möglichkeiten für die Meinungsäußerungsfreiheit geschaffen, aber auch die Optionen für subtile Zensur vergrößert. Die chinesische Firewall filtert, nicht nur in afrikanischen Ländern werden ISPs blockiert, in Sozialen Netzwerken macht sich nichtstaatliche Zensur breit, und es wächst verantwortungsloser und missbräuchlicher Umgang mit der Meinungsfreiheit durch Individuen.
Diese Widersprüchlichkeit trifft auch auf das individuelle Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu. Datenschutz war in der analogen Welt primär ein Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat. In der digitalen Welt kommt nun der Eingriff in die Privatsphäre zunehmend von privaten Unternehmen.
Brauchen wir also neue Grundrechte, die uns vor den neuen Bedrohungen schützen? Diese Frage wurde beim UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) diskutiert. In der Genfer WSIS-Deklaration (2003) haben alle UN-Staaten zugestimmt, dass die UN-Menschenrechtsdeklaration auch für die Informationsgesellschaft relevant ist. Und der UN-Menschenrechtsrat hat 2013 bekräftigt, dass die Menschenrechte offline und online gleichermaßen gelten.
Noch einen Schritt weiter ging die Weltkonferenz „NetMundial“, die die brasilianische Regierung im April 2014 als Reaktion auf die Enthüllungen von Edward Snowden organisiert hatte. In der Sao-Paulo-Deklaration über Grundätze zu Internet Governance wird u.a. das Recht auf Zugang zum Internet verankert und eine anlasslose Massenüberwachung verurteilt. Diese Deklaration entstand in einem Multi-Stakeholder-Prozess, d.h. zu den Prinzipien bekennen sich nicht nur mehr als 100 Regierungen, sondern auch die großen Internetunternehmen, die technische Community und weite Teile der Zivilgesellschaft.
Eine europäische Charta für Digitale Grundrechte? Die Initiative für eine „Europäische Charta der digitalen Grundrechte“, die die deutsche ZEIT-Stiftung 2016 startete, ging einen Schritt weiter. Ziel war es, die Sensibilität für die Geltung von Grundrechten im Cyberspace zu erhöhen. Experten aus Wirtschaft, Politik, der akademischen und technischen Community und der Zivilgesellschaft entwarfen einen ersten Text, der im Dezember 2016 in mehreren deutschen Tageszeitungen abgedruckt und im LIBE-Ausschuss des Europäischen Parlaments vorgestellt wurde. Seither gibt es eine heftige Debatte mit viel Pro und Kontra.
Auf der einen Seite erhält die Idee, die Grundrechte der Bürger im digitalen Zeitalter präziser zu definieren, viel Unterstützung. Auf der anderen Seite wird die Befürchtung geäußert, das eine gesonderte Digitalcharta die bereits existierenden individuellen Rechte, wie sie in der Europäischen Grundrechtecharta aus dem Jahr 2000 verankert sind, verwässern könnten.
Verteidiger der Digitalcharta weisen darauf hin, dass es ja nicht darum geht, die existierende Grundrechtecharta zu ersetzen, sondern die dort enthaltenen Rechte zu ergänzen, und zwar dort, wo durch neue Sachverhalte auch neue Herausforderungen und/oder Gefährdungen entstanden sind. Auch die UN-Menschenrechtsdeklaration von 1948 wurde durch spezielle Konventionen, z.B. zum Schutz von Kinder-, Frauen- und Minderheitenrechten, ergänzt, ohne dass dabei die Substanz der in der 1948er-Deklaration verankerten Rechte verändert wurde.
Mehr Zündstoff für Kontroversen bot der Ansatz der Digitalcharta, dass nicht nur Regierungen, sondern auch private Unternehmen in die Pflicht zu nehmen seien, wenn es um Grundrechte geht. Dem Chartaentwurf liegt die Überlegung zugrunde, das eine Zensur durch Unternehmen genauso abzulehnen sei wie eine Zensur durch Regierungen.
Die Debatte um die Rolle nichtstaatlicher Akteure bei der Gewährleistung der Menschenrechte ist international ja nicht neu. In der UNO wird seit mehr als zehn Jahren darüber diskutiert. 2011 wurden die „UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ verabschiedet. Die sogenannten Ruggie-Prinzipien – benannt nach dem UN-Sonderbeauftragten John Ruggie – basieren auf drei Säulen:
Das muss natürlich auch für Unternehmen gelten, die im Cyberspace aktiv sind. Noch strittiger ist die Frage, wie freie Meinungsäußerung und Datenschutz im digitalen Zeitalter zu praktizieren sind. Die löbliche Absicht, den Grundrechteschutz zu erweitern, kann auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben. Die in Jahrzehnten gewonnene Balance in der Interpretation, wo die Grenzen für Meinungsäußerungsfreiheit und Datenschutz liegen, ist delikat und im Zweifelsfall immer ein Fall für unabhängige Gerichte. Auf der anderen Seite aber bedarf es gerade bei diesen beiden so wesentlichen Rechten einer erweiterten Interpretation, um einen schleichenden Rückbau etablierter Rechte, sei es durch autokratische Regierungen oder global agierende private Unternehmen, zu verhindern.
In jedem Fall tut eine breite öffentliche Diskussion not. Die ist mittlerweile vor allem in Deutschland angelaufen. Während der re:publica im Mai 2017 in Berlin, dem europäischen Internet Governance Forum (EURODIG) in Tallin im Juni 2017 und bei vielen anderen Veranstaltungen ist die Digitalcharta Gegenstand einer produktiven Debatte.
2017: Erfolgreich. Die Digitalcharta wird vor allem in Deutschland produktiv diskutiert – z.B. bei der re:publica 2017. (Foto: re:publica/Jan Zappner (CC BY-SA 2.0)
Dabei wird deutlich, dass das Internet zu komplex ist, als dass man seine Regelungen allein dem Staat oder der Wirtschaft überlassen kann. Der Multi- Stakeholder-Ansatz, vom WSIS bereits 2005 sanktioniert und beim UN Internet Governance Forum (IGF) oder der Internetorganisation ICANN erfolgreich praktiziert, ist insofern auch ein Ansatz, um ein erweitertes Verständnis für die Durchsetzung von Grundrechten im digitalen Zeitalter zu erreichen. Nur wenn alle Betroffenen und Beteiligten in die Entwicklung von Internetpolitiken und entsprechenden Entscheidungen in ihren jeweiligen Rollen, aber auf gleicher Augenhöhe, eingebunden sind, sind nachhaltige Regelungen machbar.
Dabei ist auch klar, dass isolierte nationale Regelungen in einer globalisierten Welt nur einen begrenzten Effekt haben. Und digitale Grundrechte wird es nur geben, wenn der Cyberfrieden erhalten bleibt und die digitale Wirtschaft floriert
Was also mittelfristig nottut, ist eine mehr umfassende Initiative, die die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen Sicherheit, Wirtschaft und Menschenrechten ins Auge fasst. Angesichts wachsender internationaler Spannungen und neuer Bedrohungen von Grundrechten durch Autokraten und Nationalisten ist das kein leichtes Unterfangen.
In vielen Dingen ähnelt die Welt der 2010er-Jahre der Welt der 1960er-Jahre. Damals folgte eine Krise auf die andere: Berliner Mauerbau 1961, Kubakrise 1963, 6-Tage-Krieg im Nahen Osten 1967, Ende des Prager Frühlings 1968. Dazu Vietnamkrieg und atomares Wettrüsten. Dennoch begann gerade in dieser Zeit die Suche nach Entspannung im „Kalten Krieg“. Dem Atomteststoppabkommen (1963) folgte der Kernwaffensperrvertrag (1968). Nach der Wahl des republikanischen Präsidenten Nixon in den USA begannen 1969 in Helsinki Verhandlungen zur Begrenzung des strategischen Wettrüstens (SALT). Die 1969 neu ins Amt gekommene sozialliberale Bundesregierung eröffnete mit ihrer Ostpolitik den Weg zur „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE). In der KSZE-Schlussakte von 1975 wurde das gesamte Spektrum der Ost-West-Beziehungen – von der Sicherheit über die wirtschaftliche Zusammenarbeit bis zu den Menschenrechten – in ein zwar nicht reibungsfreies, aber gut geregeltes Nebeneinander kanalisiert. Das bahnte letztlich den Weg für die Demokratisierungsprozesse der späten 1980er-Jahre.
Im Grunde geht es im Cyberspace heute um die gleichen drei Themen wie bei der KSZE: Wie vermeide ich einen Cyberkrieg? Wie gestalte ich die digitale Wirtschaft? Und wie garantiere ich digitale Grundrechte? Insofern drängt sich die Frage auf, ob die KSZE der 1970er-Jahre eine „Quelle der Inspiration“ für eine globale „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im Cyberspace“ (KSZC) für die 2020er Jahre sein könnte. Geschichte wiederholt sich nicht. Die KSZE war eine rein staatliche Konferenz und auf Europa beschränkt. Die Idee einer KSZC würde heute nur funktionierten, wenn sie global aufgestellt und alle staatlichen und nichtstaatlichen Stakeholder mit einbezogen wären. Dies wäre eine sehr komplexe Veranstaltung. Eine Diskussion über die Machbarkeit wäre dennoch keine verschwendete Mühe. Deutschland bewirbt sich jetzt um die Ausrichtung des IGF für das Jahr 2019. Eine gute Gelegenheit, den Blick nach vorn zu richten.