Anti-Corruption-Day, Bangkok (Bild: 1000 Words – Shutterstock)
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat das Wissenschaftsjahr 2014 unter das Motto „Die digitale Gesellschaft“ gestellt. Dazu gibt es im Laufe des Jahres viele Projekte und Veranstaltungen. Eines der Themen, die dabei behandelt werden sollen, ist politische Partizipation. Anders als Miriam Meckel, die mit ihrem Team bei ihrer Studie für das DIVSI einen weiter gehenden Beteiligungsbegriff zugrunde gelegt hat, will die Bundesregierung den Fokus also bewusst auf politische Beteiligung richten. Das ist durchaus verständlich, da sich nicht mehr so viele Menschen wie früher in Parteien engagieren und an Wahlen teilnehmen und da niemand bisher ein Mittel gefunden hat, diesen Trend zu stoppen.
An der Europawahl haben sich zuletzt wieder mehr Menschen beteiligt als vor fünf Jahren, aber dieser Zuwachs reichte nicht so weit, dass wenigstens die Hälfte der wahlberechtigten Deutschen ihre Stimme abgegeben hätte. Den SPD-Kandidaten für das Amt des Präsidenten der EU-Kommission kannte nur ein Viertel der Wähler, obwohl es sich um einen Deutschen und bekannten Europäer handelt, zudem Präsident des EU-Parlaments; den Kandidaten der Konservativen kannten sogar nur 13 Prozent, obwohl er uns über viele Jahre die Beschlüsse von EU-Gipfeln im Fernsehen erläutert hat, ausgezeichnet Deutsch spricht und hier viele Auftritte absolviert hat. Wenn drei Viertel der Wähler nicht einmal die Namen der Kandidaten wissen, die sich um die Präsidentschaft der EU-Kommission bewerben, dann fragt man sich, was eigentlich Informationsfreiheit und Transparenzgesetze bringen sollen.
Zur politischen Beteiligung gibt es, wie Miriam Meckel mit ihrem Team gezeigt hat, die mit Abstand meisten Studien. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich die Wissenschaft schon einig wäre. Während manche meinen, das Internet fördere nahezu zwangsläufig Demokratie und Partizipation, können andere keine oder nur geringe Effekte erkennen. Einige behaupten sogar, das Internet schwäche die Demokratie, jedenfalls die, die wir bisher kannten, und die sogenannten sozialen Medien führten nicht zu mehr, sondern zu weniger politischer Beteiligung.
Widersprüchliche Erkenntnisse bedeuten nicht, dass die Forscher schlechte Arbeit abliefern, sondern erinnern daran, dass das digitale Zeitalter gerade erst richtig begonnen hat und noch nicht klar erkennbar ist, wohin die digitale Revolution uns führt. Sie resultieren außerdem aus unterschiedlichen Untersuchungsansätzen, unterschiedlichen theoretischen Erklärungsmodellen und unterschiedlicher methodischer Vorgehensweise. Zudem sind die Kausalitäten schwer zu benennen: Engagieren sich Menschen politisch, nachdem sie das Internet für sich entdeckt haben, oder waren sie schon politisch interessiert und nutzen jetzt nur das Netz auch für politische Zwecke, weil es manches leichter macht? Henne oder Ei? Und ist es allein das Internet, das Menschen veranlasst, sich politisch zu beteiligen, oder sind es eher andere Faktoren, die dazu führen, dass sie die Politik für sich entdecken?
„Technology is the car“, sagt David Gelernter, „not the driver.“ Nach diesem Modell würde das Internet als Treiber für Demokratie und Partizipation systematisch überschätzt und wären technische Möglichkeiten weit weniger bedeutsam für die Frage, ob sich jemand politisch beteiligt oder nicht, als andere Faktoren: politische, ökonomische, soziale oder kulturelle. Anders gesagt: Es sind immer noch die Menschen, die darüber entscheiden, sich politisch zu engagieren und dafür auch das Internet zu nutzen. Ein allgemein anerkanntes Gesamtmodell aller Faktoren, die politische Beteiligung hervorrufen oder erschweren, hat sich noch nicht herausgemendelt.
Das Heilsversprechen des Internets beruht auf der Tatsache, dass Informationen heute im Prinzip weltweit verfügbar sind, und der Hoffnung, dass besser informierte Menschen aufgeklärte Menschen sind. Wenn Wissen Macht ist, dann löst sich die Macht auf, wenn alle dieses Wissen haben, dann gibt es keine Herrschaft mehr, keine Gewalt und auch keinen Krieg. Das ist die technokratische Utopie hinter dem Glauben, im digitalen Zeitalter ließen sich Demokratie und Partizipation nicht mehr aufhalten. Die Anzahl der Staaten, die man als gefestigte Demokratien bezeichnen kann, wächst aber schon lange nicht mehr. Bei vielen Ländern, die sich selbst formal so nennen, handelt es sich eher um „unechte“ oder „unwahre“ Demokratien, um „weak states“ oder „failed states“.
Wenn man sich umsieht – Syrien, Ukraine, Türkei, Ungarn etc. pp. –, dann sind wenig Anzeichen zu erkennen, dass diese Utopie morgen Realität werden könnte. Von Nordkorea, Afghanistan, Pakistan, China oder Russland ganz zu schweigen. Quantitativ wächst die Anzahl der Demokratien, seit es das Internet gibt, offenkundig nicht. Aus dem „Arabischen Frühling“ ist auch längst Herbst geworden. Entscheidend ist nicht, was die Menschen wissen könn(t)en, sondern was sie glauben wollen. Sie nehmen die Informationen auf, die sie aufnehmen wollen. Alles andere blenden sie aus. Wer glaubt, die Proteste auf dem Taksim-Platz seien aus dem Ausland gesteuert, der lässt sich von gegenteiligen Auffassungen im Internet nicht beirren.
Qualitativ könnte das Internet immerhin gefestigte Demokratien noch besser, noch demokratischer machen. Das Mittel dazu wäre die „elektronische Demokratie“, also die Nutzung des Web 2.0 und der „sozialen Medien“ in politischen Prozessen. An Bürgerforen oder Bürgerhaushalten beteiligt sich bisher aber nur eine kleine Minderheit, die nicht repräsentativ ist für die Bevölkerung, was die soziale Spaltung eher noch verstärkt. Und was die Vorschläge, die mit solchen Instrumenten generiert werden, tatsächlich bewirken, ist noch kaum erforscht. Kommen Ideen auf den Tisch, die wirklich neu sind, oder ist das meiste den Fachleuten schon bekannt? Führen solche Verfahren dazu, dass die Kommune in absehbarer Zeit schuldenfrei ist, oder dürfen die Bürger nur sagen, wo sie am ehesten sparen würden? Was wird durch „elektronische Demokratie“ besser: die Beteiligung der Bürger? Ihre Identifikation mit der Gemeinde? Die politische Steuerung? Die faktische Haushaltslage? Die allgemeinen Handlungsspielräume? Und welche Bedeutung hat dabei das Netz?
Die konventionelle politische Beteiligung nehme zwar ab, aber dafür nehme eine unkonventionelle politische Beteiligung zu, ist eine der Thesen in der Diskussion. Die Menschen würden sich zwar weniger in Parteien engagieren, nicht mehr so häufig zur Wahl gehen und auch weniger Leserbriefe schreiben, sich dafür aber schneller an spontanen Protesten beteiligen, in Initiativen mitarbeiten und Petitionen online auf den Weg bringen.
Auf der Systemebene lässt sich das hingegen nur bedingt erkennen: Politische Beteiligung ist zwar bunter und vielfältiger geworden, so scheint es, aber nicht „massenhafter“ und intensiver. Man denke nur an die Ostermärsche oder an die Demonstrationen gegen die Nachrüstung oder gegen die Atomenergie. Was die neuen Formen politischer Beteiligung tatsächlich bewirken, ob sie den Politikbetrieb beeindrucken oder sogar dauerhaft verändern, ist noch nicht hinreichend erforscht. Insofern ist es gut, dass sich nicht nur die Bundesregierung, sondern auch eine Institution wie das DIVSI dieses Themas annimmt. Dass sich im letzten Jahr ein Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin gegründet hat, unterstreicht, dass es auf diesem Feld noch genug zu tun gibt.
Hier geht es zur Studie: „Bereiche und Formen der Beteiligung im Internet: Ein Überblick über den Stand der Forschung“