Zwar sind bis in die Antike Experimente überliefert, in denen Menschen sich einer genauen Selbstbeobachtung unterzogen – dennoch sind viele Experten einig, dass mit den aufkommenden neuen technischen Möglichkeiten eine neue Ära beschritten wird. Mit dem „quantified self“ (2007 von den Wired-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly begründet) ist eine Bewegung gemeint, die sich zum Ziel gesetzt hat, mit modernen technischen Mitteln möglichst viele Messdaten über den eigenen Körper zu erfassen und auszuwerten sowie ggf. zur Steuerung des eigenen Verhaltens zu verwenden.
Man kann das Aufkommen dieser Bewegung auf eine Gesetzmäßigkeit in der Informationstechnologie zurückführen, die als „Moore‘s Law“ bekannt ist. Das Gesetz besagt, dass die Komplexität oder Dichte elektronischer Schaltungen und Bauteile sich regelmäßig im Abstand von ca. 18 Monaten verdoppelt, d.h., innerhalb von knapp zwei Jahren passen doppelt so viele Bauteile auf die gleiche Fläche – oder das entsprechende Bauteil ist eben nur noch halb so groß.
In der Konsequenz heißt dies für den Konsumenten, dass Computer und ihre Prozessoren immer kleiner, leistungsfähiger und auch günstiger werden. So tragen heute viele Menschen einen Hochleistungscomputer in der Hosentasche, für dessen Rechenleistung noch vor wenigen Jahren der Gegenwert eines Einfamilienhauses aufgebracht werden musste und dessen Platzbedarf noch ein paar Jahre zurück ein ebensolches erfordert hätte. Die Entwicklung hat sich nicht nur auf die Prozessoren und Peripheriebauteile der Computer erstreckt – auch Sensoren und Messelektronik sind von der exponentiellen Wachstumskurve des Moore‘schen Gesetzes erfasst. Das im Folgenden beschriebene Phänomen des Quantified Self ist ohne diese Entwicklung nicht denkbar – mit all den Sensoren um uns herum ist die Vermessung des eigenen Selbst und die Generierung von Daten und Vergleichstabellen quasi ein Abfallprodukt der technischen Entwicklung – allerdings eines, das auf größtes Interesse seitens der Industrie sowie der menschlichen Psyche stößt…
„Erkenne dich selbst“ ist die berühmte Inschrift auf dem Apollo-Tempel in Delphi. Es spricht vieles dafür, dass wir diesem Anspruch in 2015 mithilfe von Big Data und Kleinstcomputern, die am oder gar im Körper getragen werden, näher kommen – oder gerade nicht?
Beim Autor jedenfalls ist die Zwischenbilanz ambivalent. Tracking ist faszinierend und ermöglicht tiefe Einblicke in Details des eigenen Körpers, der Umwelt oder auch sozialer Interaktionen. Aber die Digitalisierung geht nicht spurlos an einem vorbei – selbst dann, wenn die Daten nicht ungeschützt auf Serverfarmen im Ausland zur Verfügung stehen, weil die AGB des Fitness-Armbandherstellers es so festlegen.
Es ist nicht einfach, einen halbwegs soliden Stand der Technik zu vermitteln, wenn es um Wearables geht, denn die Entwicklung ist ausgesprochen rasant und vor allem: wild. Viele der spannendsten Innovationen werden von Start-Ups, Makern und Forschungsteams vorangetrieben, viele davon auf Crowd-Funding-Plattformen wie z.B. kickstarter gefördert. Eine der führenden technologischen Plattformen für Wearables ist noch immer Arduino – eine von italienischen Designprofessoren entwickelte Bastelplattform auf Basis von Mikrocontrollern. Doch zunehmend bewegen sich auch größere Firmen aus der IT-Szene in das neue Feld: Intel hat auf der Maker Faire in Rom 2013 mit dem Galileo-Board ein Kooperationsprojekt mit Arduino vorgestellt, das kontinuierlich, auch mit Feedback aus der Community, weiterentwickelt wurde – inzwischen steht der Intel Edison zur Verfügung, ein vollständiger Computer mit WiFi, Bluetooth und der Rechenleistung eines Intel Pentium, aber in der Größe zweier Briefmarken und mit extrem reduziertem Stromverbrauch, sodass das Gerät wochenlang mit Batterien betrieben werden kann. Mit dem Curie ist ein weiteres, noch kleineres Board angekündigt, das sich explizit an die Macher von Wearables richtet und nicht viel größer als der Kopf einer Reißzwecke ist. Samsung hat auf der IFA 2015 eine Reihe von Kleinst-Boards angekündigt („Artik“), die mit bemerkenswerter Rechenleistung aufwarten, bei ähnlich geringer Baugröße. Die neue Windows-10-Version von Microsoft wird den Raspberry 2 unterstützen und für das Internet of Things optimiert sein. Hinzu kommen zahlreiche Kleinserien und Forschungsprojekte sowie Spezialanfertigungen wie z.B. der Vaginal-Sensor „trackle“, der mit dem Anspruch antritt, die Empfängnisverhütung auf Basis eines miniaturisierten Arduino-Clones zu revolutionieren.
Im Bereich der Wearables dominieren derzeit noch Geräte, die am Arm getragen werden, in Zukunft werden wir es aber mit einem deutlich breiteren Spektrum zu tun bekommen. Kleidung mit eingehähter Sensorik, um z.B. den Hautwiderstand oder die Transpiration zu messen, interaktive Kleidungselemente, die auf Umgebungsinformationen reagieren (oder eben die Lage des Babys oder eines demenzkranken Seniors erfassen), Ohrringe, die im Rhythmus des Herzschlags der Trägerin pulsieren, und sogar Sensoren, die in Zukunft in den Körper eindringen, sind zu erwarten. Wearables werden derzeit noch häufig als Luxus-Gadgets angesehen, zunehmend dürften sich aber immer mehr handfeste Anwendungszwecke herausschälen, die für die Nutzer derartiger Devices unverzichtbar werden, gerne aber auch für interessierte Dritte wie z.B. Krankenkassen oder Arbeitgeber …
Im Prinzip ist man bei Wearables automatisch im Bereich sensitiver Daten, die vom Gesetzgeber besonders geschützt wurden und z.B. hohe Standards bzgl. Zustimmung, Datensicherheit etc. erfordern. Tatsächlich werden die Daten von Fitness-Trackern häufig unverschlüsselt auf Server außerhalb der EU hochgeladen (die Zustimmung dafür wird in manchen Fällen mit dem Erwerb des Produktes bzw. der Inbetriebnahme pauschal per AGB erteilt).
Die Herausforderung besteht hier darin, datenschutzkonforme Varianten von Wearables zu fördern, aber auch die gesetzlichen Vorgaben so zu fassen, dass Anbieter Regelungen vorfinden, die datengetriebene Geschäftsmodelle dieser Art überhaupt erst ermöglichen (insbesondere die Regelungen zur Pseudonymisierung von Daten sind hier zu erwähnen).
Der britische NHS, die größte gesetzliche Krankenversicherung der Welt, lieferte vor einigen Monaten ein besonderes Beispiel für die Schwierigkeit, sich in diesem Feld datenschutzkonform zu verhalten und Versicherte angemessen ins Boot zu holen. Mit der Initiative care.data sollten sämtliche Gesundheitsdaten im System verfügbar gemacht und verknüpft werden – der Patient sollte Zugang zu seinem kompletten Health Record bekommen, aber eben auch die Krankenkasse selbst und Forschungseinrichtungen sowie Gesundheits-Start-Ups. Aufgrund schlechter Aufklärung, mangelhafter Pseudonymisierung und zahlreicher anderer Umsetzungsprobleme scheiterte die Einführung des Programms allerdings zunächst am heftigen Widerstand von Öffentlichkeit, Verbraucherverbänden und aufgeschreckten Politikern.
An diesem Beispiel lässt sich gut eine zentrale Anforderung an Wearables und IoT Devices erkennen: Transparenz. Die Hersteller, aber auch Verbände, Datenschützer und Regulierer müssen zügig Möglichkeiten finden, um für verlässliche Transparenz zu sorgen – Kunden sollten idealerweise auf einen Blick erkennen können, ob ein Gerät Daten generiert und was mit diesen passiert, eine Art „Nutrition Labeling“ für Iot/Wearables. Ähnliches gilt für die Sicherheit der Kommunikation – es sollte längst Standard sein, dass derartige Geräte verschlüsselt kommunizieren und Server-Standorte gewählt werden, die im Rechtsgebiet des Nutzers liegen.
Auch diese Herausforderung verdient Beachtung – gerade auch im Kontext der seriöseren Problemfelder wie Datenschutz oder anderer gesellschaftlicher Konsequenzen. Wie meist, wenn Entwicklungen vor allem aus der Perspektive des technisch Machbaren motiviert sind, kommt relativ viel wenig Brauchbares heraus – der smarte Kühlschrank ist eines der Standardbeispiele dafür. Auch im Bereich von Wearables ist nicht davon auszugehen, dass jeder irgendwo am Körper getragene Sensor und jede Fitness-App langfristig eine sinnvolle Rolle im Leben der Menschen spielen wird. Es steht derzeit eher zu befürchten, dass in den falschen Ecken entwickelt wird – so wäre z.B. der Nutzwert elektronischer Helfer und smarter Kleidung und Sensorik im Bereich der Demenz oder generell als Tools, um älteren Menschen autonomes Leben zu ermöglichen, ziemlich offensichtlich. Nur leider kennen Menschen im Silicon Valley oder im Prenzlauer Berg gar keine alten Menschen. Ebenso wären Fitness-Tools für Menschen mit Übergewicht oder anderen körperlichen Leiden vermutlich nutzwertstiftender als im Einsatz bei übertrainierten 30-Jährigen.
Wearables und Internet-of-Things-Geräte haben eines gemeinsam – sie generieren massenhaft Daten über ihre Besitzer und Bewohner, häufig werden diese Daten auch in irgendwelche Clouds und Analysedatenbanken hochgeladen, nicht selten auch an Dritte weitergereicht, kombiniert und verkauft.
Gleichzeitig ist zu erkennen, dass zunehmend Versicherer, Banken und Krankenkassen Interesse an derartigen Daten entwickeln, erste Tarife auf Basis von z.B. GPS-Tracking-Daten oder in Kombination mit Fitness-Trackern sind schon auf dem Weg. Es steht zu befürchten, dass dieser Trend bald schon entsolidarisierende Effekte auf ein System entfalten wird, das bisher auf Lastenverteilung und Solidarität aufgebaut war. Denn das Mantra des Data-Scientist sind individuelle Daten, individuelle Risiko-Scores und Preismodelle – jede Art von Aggregierung oder Verschleierung der Identität eines Datenträgers wird als Verschlechterung des Datenmodells angesehen (was auch stimmt). Doch ein gesellschaftliches System wie z.B. die gesetzlichen Krankenkassen ist in seinem Kern auf einer Nichtzuschreibung von Krankheitsrisiken auf Individuen angelegt, somit auch auf Datenverzicht. Eine naive Abkehr von diesen Prinzipien aufgrund technischer Machbarkeit und der Faszination auf der Seite der Nutzer wäre fatal, wenn damit en passent gesellschaftliche Errungenschaften ins Wanken gerieten – dies erfordert dringend eine Diskussion, die beschreibt, wo Daten erhoben werden dürfen und wo nicht.
Schon heute existieren medizinische Implantate, die elektronische Geräte direkt mit Nervenenden des menschlichen Körpers verbinden, um Signale zu übertragen – das Cochlea-Implantat ist so ein Fall. Noch werden diese Geräte genauso wie EEG-Messgeräte und andere medizinische Spezial-Hardware von wenigen Herstellern und unter höchsten Auflagen produziert und von dafür ausgebildeten Spezialisten implantiert. Aber warum sollte das in Zukunft so bleiben? Was spricht dagegen, ein Cochlea-Implantat per Bluetooth anzusprechen und die Programmier-Schnittstelle dafür freizugeben (dieser Anspruch wird sogar schon professionell vom Verein Cyborgs e.V. vorangetrieben), sodass z.B. ein verfügbares WiFi-Netzwerk in der Umgebung mit einem Ton signalisiert werden kann – oder ein sich von hinten annäherndes lautloses Elektrofahrzeug?
Heute werden Träger von Googles interaktiver Datenbrille noch verlacht, und manche Lokale verhängen ein Zugangsverbot – schon in wenigen Jahren werden Möglichkeiten existieren (im Massenmarkt, im Labor geht das heute schon), den Sehnerv ähnlich „anzuzapfen“, wie das beim Hörnerv schon Standard ist, um zusätzliche Daten oder gar komplette Augmented-Reality-Anwendungen einzublenden. Analysegeräte werden so klein und autonom einsetzbar sein, dass sie verschluckt werden und den Körper von innen vermessen können.
Gleichzeitig stellt sich in den nächsten Jahren allerdings auch die Frage, wie die Welt aussehen wird, in der wir dann leben. Wird es weiter Kündigungsschutz, Krankenkassen für alle und generell diskriminierungsfreie Teilnahme am sozialen Leben für alle geben? Oder bestimmen die Daten und darauf aufsetzende Algorithmen, wohin es für uns geht – ganz individuell und jede Sekunde in der Cloud neu berechnet?