Nach dem Urteil des EuGH: Bislang mehr als 830.000 Einzelverweise getroffen; 40 Prozent wurden aus den Ergebnislisten entfernt. Aber: Verlieren kleinere Anbieter so ihre wirtschaftliche Grundlage?
Mit seinem Urteil vom 13. Mai 2014 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass Google dazu verpflichtet ist, auf Antrag Verweise auf Internet-Seiten aus dem Suchindex zu löschen, auf denen sich persönliche Informationen über den Antragsteller finden. In Reaktion auf das Urteil hat der Suchmaschinenbetreiber ein Formular ins Netz gestellt, das es jedem ermöglicht, einen solchen Löschantrag zu stellen.
Seitdem sind über 230.000 Löschanfragen eingegangen, die mehr als 830.000 Einzelverweise betreffen. Etwa 40% der beanstandeten URLs wurden aus den Ergebnislisten entfernt. Die Löschungen führen dazu, dass über Namenssuchen bei Google Verbindungen zwischen Personen und Ereignissen nicht mehr hergestellt werden können. Angesichts der erheblichen Bedeutung, die solche Internet-Recherchen heute für die Informationserlangung haben, kann man sagen, dass gewisse Informationen quasi unsichtbar werden, wenn der Verweis hierauf bei Google entfernt wird.
Das Urteil wurde im Anschluss kontrovers diskutiert. Manch ein Kommentator – vor allem aus politischen Kreisen – sah hierin einen Sieg europäischer Grundrechtstraditionen über einen Internet-Giganten aus den USA. Andere äußerten Bedenken gegen die Entscheidung und ihre Auswirkungen.
In der Tat wirft die Entscheidung viele Fragen auf. Einerseits ist es zu begrüßen, dass Personen eine Möglichkeit gegeben wird, mit einfachen Mitteln persönliche Informationen im Netz mehr oder weniger unauffindbar zu machen. Andererseits können die Löschungen auch erheblich in öffentliche Interessen und Grundrechte eingreifen. Können etwa Politiker ohne Weiteres Verweise auf Skandale tilgen lassen, wird die Wahrnehmung der Geschichte verfälscht.
Auch ist zu bedenken, dass es wirtschaftliche Auswirkungen auf Verlage oder Blogger haben kann, wenn Links auf werbefinanzierte Inhalte nicht mehr angezeigt werden. Schließlich ist es bedenklich, Suchmaschinenanbietern Pflichten aufzuerlegen, die nur mit erheblichem Aufwand erfüllt werden können. Was für einen Giganten wie Google ärgerlich sein mag, entzieht kleineren Anbietern schnell die wirtschaftliche Grundlage. Unangemessene Prüf- und Löschpflichten drängen kleinere Wettbewerber aus dem Markt und laufen somit dem Ziel zuwider, mehr Wettbewerb bei Suchmaschinen und Aggregatoren zu schaffen.
Im Lichte dieses Spannungsverhältnisses muss nun die Frage beantwortet werden, wie das Urteil des EuGH umzusetzen ist. Das Gericht hat für die Verfahren kaum Regeln aufgestellt. Im Projekt „Braucht Deutschland einen Digitalen Kodex“ wird daher der Frage nachgegangen, ob es solche Regeln geben sollte, wie sie entstehen, welchen Inhalt sie haben sollten, wie sie wirkmächtig werden und wer an ihrer Entstehung beteiligt werden sollte.
Angesichts der, jedenfalls in manchen Fällen, erheblichen Bedeutung der Löschentscheidungen für öffentliche Interessen sind sich die meisten Kommentatoren einig, dass diese nicht im rechtsfreien Raum ergehen dürfen. Der Umstand, dass Suchmaschinenanbieter wie Google bei grundrechtsrelevanten Fragen als eine Art „Privatgericht“ fungieren, ist problematisch genug. Ohne weitere Vorgaben in intransparenten Verfahren getroffene Entscheidungen sind rechtsstaatlich umso fragwürdiger, vor allem, wenn sie nur begrenzt angefochten werden können.
Dem könnten Verfahrensregeln entgegenwirken, mit denen rechtsstaatliche Prinzipien sichergestellt werden. Solche könnten einerseits durch Gesetze, andererseits aber auch durch einen Kodex entstehen, der den Suchmaschinenanbietern gewisse Mindeststandards auferlegen würde. Gesetzliche Regeln sind häufig statisch, ihre Einführung dauert lange, und sie sind generell an eine einzige Rechtsordnung gebunden.
Würde nicht die EU solche Regeln aufstellen, sondern die Mitgliedsstaaten, könnten in der Union 28 verschiedene Gesetze entstehen, die jeder Suchmaschinenanbieter einhalten müsste. Google oder Microsoft könnten dies möglicherweise leisten, nicht aber kleinere Anbieter wie Start-ups. Mit anderen Worten: überkomplexe, territoriale Verfahrensgesetze würden die Marktmacht der großen Anbieter nachhaltig stärken und Wettbewerb verhindern. Eine einheitliche Regelung, die in ganz Europa gilt, wäre daher vorzugswürdig. Eine dementsprechende EU-Verordnung ist jedoch nicht in Sicht, und ihre Verabschiedung würde im Zweifel Jahre dauern.
Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, in einem offenen Diskurs einen Verhaltenskodex zum Umgang mit den Löschanfragen auszuhandeln und umzusetzen. Man könnte diesbezüglich von einem „Lösch-Kodex“ sprechen.
Der Lösch-Kodex müsste Standards für die Löschverfahren setzen, um die Interessen der Betroffenen zu wahren. Werden solche Regeln im Diskurs ausgehandelt und allgemein anerkannt, wäre zu erwarten, dass die hierauf basierenden Entscheidungen größere Akzeptanz genießen. Allerdings dürfen die Regeln nicht zu großen Aufwand verursachen, und sie müssen flexibel sein. Dies ist notwendig, um unternehmerische Freiheiten zu erhalten und den Effekt zu vermeiden, dass sie von kleinen Anbietern nicht erfüllt werden können.
In diesem Spannungsverhältnis stellen sich verschiedene Fragen in Bezug auf den Inhalt eines Lösch-Kodex. Beispielsweise in Bezug auf die Beteiligung der potenziell von den Löschverfahren Betroffenen. Da z. B. die Interessen der Publizierenden beeinträchtigt werden, wenn Links nicht mehr gefunden und nicht mehr geklickt werden, könnte man erwägen, sie in jedem Fall vor der Entscheidung anzuhören. Ein solcher Prozess wäre indes höchst aufwendig und würde die Verfahren massiv verzögern. Alternativ wäre zu erwägen, den Publizierenden zumindest zu informieren, wenn ein Verweis gelöscht wird. Eine solche Information würde ihm zumindest ermöglichen, gegen die Löschung vorzugehen, vorausgesetzt, er hätte hierfür eine rechtliche Grundlage.
Auch diesbezüglich bestehen derzeit jedoch erhebliche Unsicherheiten. Kann ein Verlag sich rechtlich gegen die Entscheidung des Suchmaschinenanbieters wehren, Verweise auf seine Inhalte aus den Suchergebnissen zu entfernen? Google selbst sieht ein solches Verfahren momentan nicht vor. Die Publizierenden werden über die Löschung offenbar nicht einmal informiert. Ob eine Möglichkeit besteht, vor Gericht zu gehen, ist ebenfalls fraglich. Dafür müsste es einen Anspruch geben, in einer Suchmaschine auf bestimmte Weise gelistet zu werden bzw. aus bestimmten Ergebnislisten nicht entfernt zu werden. Ein solcher Anspruch ist nach geltendem Recht ebenso wenig ersichtlich wie – umso weniger – ein Recht von Vertretern des öffentlichen Interesses, etwa zivilgesellschaftlicher Organisationen, Löschentscheidungen anzufechten.
Um den Interessen der Antragsteller, der Öffentlichkeit, der Suchmaschinenanbieter und der Publizierenden gerecht zu werden, könnte ein zweigleisiger Ansatz verfolgt werden. Zum einen könnten gewisse Mindeststandards und zwingende Abwägungskriterien für die Löschentscheidungen des Suchmaschinenbetreibers ausgehandelt und in einem Lösch-Kodex festgelegt werden. Um diese Verfahren nicht mit rechtsstaatlichen Anhörungs-, Transparenz- und Veröffentlichungspflichten zu überlasten, könnte man eine neue Streitbeilegungsinstanz schaffen, in der die Entscheidungen des Suchmaschinenbetreibers überprüft werden könnten. Zu diesem Zweck könnte eine staatliche Schiedsstelle geschaffen werden, an die sich der Antragsteller – wenn die Löschung abgelehnt wird – oder der Publizierende – wenn sie vorgenommen wird – wenden könnten.
Da eine staatliche Stelle gesetzlichen Regelungen unterworfen wäre, wären rechtsstaatliche Vorgaben auf dieser zweiten Ebene gewährleistet. So könnte man den „demokratischen Druck“ auf die Entscheidungen der Suchmaschinenbetreiber verringern und den Betroffenen dennoch die Möglichkeit eröffnen, ihre Interessen durchzusetzen. Ein Schiedsverfahren hätte gegenüber etwaigen Gerichtsverfahren den Vorteil, dass es schneller geht, potenziell günstiger ist und die Schiedsstelle mit Personen von besonderer Sachkenntnis besetzt werden könnte. Die Verfahren in zweiter Instanz wären im Zweifel wesentlich effizienter, als wenn immer der Rechtsweg beschritten werden muss. Der Weg zu den Gerichten wäre so zwar nicht ausgeschlossen, würde aber seltener in Anspruch genommen. Hieran hätten alle Beteiligten ein Interesse.
Im weiteren Verlauf des Projekts „Braucht Deutschland einen Digitalen Kodex“ werden diese Fragen mit Experten und Akteuren diskutiert. Am Ende sollte ein Ansatz stehen, der einen sinnvollen Umgang mit dem Recht auf Vergessenwerden gewährleistet und der allen Beteiligten gerecht wird.