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Charta der digitalen Grundrechte für Europa

29. Oktober 2018

Charta der digitalen Grundrechte für Europa

Foto: Marian Weyo | Shutterstock

Es geht ums Ganze: Der Vorrang des Menschen, seiner Würde, seiner Freiheit und seiner Verantwortung für die Fortentwicklung der digitalen Techniken steht im Fokus.

Von Friedrich Graf von Westphalen

Unter dem Dach der ZEIT-Stiftung ist kürzlich eine „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“ veröffentlicht worden. Sie enthält grundlegend Neues, um den mannigfachen – und neuartigen – Bedrohungen der Grundrechte durch die Digitalisierung entgegenzuwirken. Doch es sind nicht wenige, die meinen, dazu bestehe gar kein wirklicher Bedarf. Viele sind fest davon überzeugt: Die Bestimmungen der DSGVO reichen aus, den erforderlichen Schutz der Grundrechte des Bürgers im Blick auf seine personenbezogenen Daten abzusichern.

Doch besorgte Stimmen mahnen, und sie warnen mit guten Argumenten, weil sie zu Recht befürchten, der europäische Gesetzgeber habe mit der Verabschiedung der inzwischen in nationales Recht umgesetzten DSGVO „alle Eier in den einen Korb“ gelegt, ohne im Ergebnis einen wirklich effektiven Rechtsschutz zugunsten von Freiheit und Privatheit, vor allem im Blick auf das mit der personalen Würde teilkongruente Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, zu gewährleisten.

Charta digitale Grundrechte Europa

Drei wesentliche Einwände lassen sich gegen die DSGVO ins Feld führen. Man kann – etwas pauschal – auf bekannte Buchtitel verweisen, die mit prägenden und warnenden Worten das Bedrohungsszenario der um sich greifenden Digitalisierung umschreiben, etwa das Buch von Stefan Aust/Thomas Amman, „Digitale Diktatur“, oder das Buch der diesjährigen Theodor-Heuss-Preisträgerin, Yvonne Hofstetter, die das „Ende der Demokratie“ in Zeiten dominanter Sozialer Medien und sich rasant ausbreitender Künstlicher Intelligenz anbrechen sieht. Man kann auch den von Jakob Augstein kürzlich herausgegebenen Band „reclaim autonomy“ als Beleg anführen. Genug.

Irrglaube

Solche Belegstellen ersetzen nicht die juristisch-politische Argumentation. Doch der wohl ganz entscheidende und nachhaltige Beleg gegen die Wirkkraft der DSGVO, ein Bollwerk gegen die bedrohte Freiheit des Bürgers in Zeiten der Digitalisierung zu sein, speist sich aus einem Erfahrungssatz. Er durchzieht das gesamte europarechtlich strukturierte Verbraucherschutzrecht wie ein roter Faden: Es ist der durch nichts belegte Irrglaube des Gesetzgebers, dass mehr oder weniger umfassende Informationen, die dem Verbraucher von Gesetzes wegen vor Abschluss eines Vertrages mitgeteilt werden, seine Wahl- und Entscheidungsfreiheit tatsächlich stärken. Es ist das Bild des „informierten Verbrauchers“. Doch dieses Bild als Prototyp des Verbrauchers als des „Menschen im Recht“ (Gustav Radbruch) ist ein Zerrbild; es findet keine Korrespondenz in der Alltagswirklichkeit.

Alle Erfahrung besagt: Die Informationen – auch wenn es sich um Vertragsbedingungen handelt – werden vom Verbraucher – mag er gebildet oder ungebildet sein – schlicht nicht gelesen; der rasche „Klick“ signalisiert stets die uneingeschränkte Zustimmung des Nutzers. Das nennt man im Ergebnis einen Vertragsabschluss, beruhend auf rechtsgeschäftlich wirksamen Erklärungen. Ohne Einschränkungen gilt dies auch für die „Einwilligung“ (Zustimmung) nach Maßgabe der DSGVO. Hinzu tritt auch stets der Bequemlichkeitsfaktor, dem kaum ein Verbraucher widersteht: Die Überlassung der personenbezogenen Daten – Zweckangabe hin oder her – erfolgt ja zudem „for free“, und die dann „unentgeltlich“ zu nutzenden „Dienste“ von Google, Amazon oder Facebook verheißen ja ein „besseres“ Leben mit Freunden, versteht sich.

Spezieller Einwand: Eine datenschutzrechtliche Zustimmung des Nutzers ist nach Art. 6 Abs. 1 lit a DS-GVO gesetzlich nicht gefordert, wenn und soweit „die Verarbeitung personenbezogener Daten für die Erfüllung des Vertragszwecks erforderlich“ ist. Der Vertragsabschluss – „for free“ – regiert also, und der Vertragszweck heiligt die Mittel der Werbeplattformen. Sie erhalten die personenbezogenen Daten des Nutzers, und das Resultat ist: die Manipulation des Nutzers bis zu seiner dauerhaften Gefangennahme in der „Filterblase“; die Daten der Nutzer – vor allem die der Wohlhabenden – sind eben das Gold des Internet- Kapitalismus. Im Hintergrund steht inzwischen die harte Frage, ob denn die verhaltenssteuernden Algorithmen uns nicht mehr und nachhaltiger steuern als das Recht.

Ein Drittes, wohl das Wichtigste: Unser liberales Grundrechtsverständnis ist davon geprägt, dass die Grundrechte Abwehrrechte gegenüber dem (nationalen) Staat sind, die der Bürger zum Schutz von Würde und Freiheit in Stellung bringen kann. Doch die Bedrohungen des digitalen Zeitalters gehen von Internet- Giganten aus, also von Unternehmen; dem Staat bleibt das zweifelhafte Privileg der öffentlich gesteuerten Überwachung. Rechtlich gewertet vollziehen sich diese „Angriffe“ von Big Data aber auf horizontaler Ebene, nämlich innerhalb der Privatrechtsordnung.

Rechtsbefehle

Doch die im Silicon Valley beheimateten Internet-Konzerne sind jedenfalls faktisch weitestgehend extraterritorial. Ihre unglaubliche wirtschaftliche Macht wirft inzwischen die schwerwiegende Frage auf, ob und wie lange noch ein Rechtsstaat es zulassen darf, dass – Beispiel: Besteuerung – sich innerhalb seines Territoriums Mächte entfalten, die er nicht mehr uneingeschränkt beherrschen kann. Das ist qualitativ wesentlich mehr als die oft vernommene Frage, ob denn die Politik sich noch gegenüber den Großen der Wirtschaft durchsetzen kann, ob sie noch den politischen Primat in Anspruch nehmen und ihre Rechtsbefehle auch mit Anspruch auf Autorität durchsetzen kann.

Gerade unter diesem Blickwinkel ist es von ganz entscheidender Bedeutung, dass jetzt die Digitale Grundrechtscharta in Artikel 23 Absatz 3 bestimmt, dass die „Rechte und Pflichten“ aus dieser Charta „für alle Unternehmen“ gelten, „die auf dem Gebiet der EU tätig sind“. Der Jurist nennt die damit angesprochene Rechtsfigur eine „Drittwirkung“, also die Verankerung des Durchsetzungsanspruchs der digitalen Grundrechte nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber „Unternehmen“. Diese – weiter gehende – Rechtswirkung der Grundrechte hinein ins Privatrecht ist dem deutschen Verfassungsrecht durchaus (in Grenzen) vertraut. Sie hat aber innerhalb der Grundrechtscharta der EU überhaupt keinen Platz. Denn Artikel 51 der Grundrechtscharta der EU stellt unmissverständlich klar, dass „diese Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“ gilt und eben auch nur „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts“.

Genau dieses Defizit im Grundrechtsschutz des Bürgers wird und soll durch die Digitale Grundrechtscharta beseitigt werden. Das ist nicht nur auf der Ebene des politischen Diskurses, sondern auch auf der Ebene der rechtspolitischen Debatte in Europa ein immenser Fortschritt. Ein Denkanstoß, eine Handlungsanleitung. Sie ist vor allem unter dem Blickwinkel bedeutsam, dass ja die vielfältigen Herausforderungen der Digitalisierung – auch im Blick auf ihr vorhandenes und oft unterschätztes Bedrohungspotenzial – nur im Rahmen eines noch mühsam zu schaffenden europäischen Rechts bewältigt werden können. Das wird viele Jahre in Anspruch nehmen.

Datenhaufen

Daher springt auch die Neuformulierung des Würdeanspruchs in Artikel 1 Absatz 2 der Digitalen Grundrechtscharta ins Auge: „Neue Gefährdungen der Menschenwürde ergeben sich im digitalen Zeitalter insbesondere durch Big Data, künstliche Intelligenz, Vorhersage und Steuerung menschlichen Verhaltens, Massenüberwachung, Einsatz von Algorithmen, Robotik und Mensch-Maschine-Verschmelzung sowie Machtkonzentration bei privaten Unternehmen.“ Es geht also um nicht mehr, aber auch um nicht weniger; es geht ums Ganze: Der Vorrang des Menschen, seiner Würde, seiner Freiheit und seiner alleinigen Verantwortung für die Fortentwicklung der digitalen Techniken steht im Fokus. Nach unserem Rechtsverständnis ist es ausgeschlossen, den Menschen als Person mit Leib und Seele nur als einen steuerbaren „Datenhaufen“ zu behandeln. Das kybernetische Menschenbild der Wissenschaft, das den Menschen lediglich als einen USB-Stick in ihre planende Programmierung nimmt und mit Beschlag belegt, ist nicht das Menschenbild des europäischen Rechts. Und es darf daher auch nicht zu einer mathematisch determinierten Größe pervertiert werden. Dagegen ist fundamentaler Widerstand angesagt.

Notwendigerweise sind daher auch die weiteren Forderungen der Digitalen Grundrechtscharta – außerhalb des rein Appellativen, sondern mit verpflichtendem Bezug zur gesellschaftlichen Gestaltung Europas – in den Blick zu nehmen: „Ethisch-normative Entscheidungen können nur vom Menschen getroffen werden.“ (Artikel 8 Absatz 1) Und im Blick auf die weithin nicht voll beherrschbaren Risiken der Künstlichen Intelligenz steht zu lesen: „Für die Handlungen selbstlernender Maschinen und die daraus resultierenden Folgen muss immer eine natürliche oder juristische Person Verantwortung tragen.“ Dann schließlich auch dieser Programmsatz gegen die Wirkmacht der Algorithmen: „Jeder hat das Recht, nicht Objekt von automatisierten Entscheidungen von erheblicher Bedeutung für die Lebensführung zu sein“ (Artikel 7 Absatz 1).

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Der Autor

Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen

Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen

Foto: Frank Bluemler

leitet den Ausschuss „Europäisches Privatrecht“ beim Rat der Europäischen Anwälte in Brüssel, ist Mitglied des European Law Institute Wien.

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