„Braucht Deutschland einen Digitalen Kodex?“ – das ist die Frage, die DIVSI im April 2013 gestellt und am Ende der ersten Phase eines fundierten Projekts im Mai 2014 nach inhaltlichen Analysen, Expertenkonsultationen und öffentlichen Diskussionsveranstaltungen positiv beantwortet hat. Unter einem „Digitalen Kodex“ werden dabei, vereinfacht gesagt, Normen verstanden, an die sich Akteure im Netz halten, ohne dass es dafür staatlicher Sanktionsmechanismen bedarf. In einer zweiten Projektphase wird die Frage nach einem „Digitalen Kodex“ nun für das Thema „Big Data“ konkretisiert.
Vielfach unbemerkt werden bei fast jeder digitalen Transaktion Daten nicht nur verarbeitet, sondern von großen Plattformanbietern auch gespeichert und im Rahmen ihrer Geschäftsmodelle verwertet. Oftmals lautet der unausgesprochene Deal der Plattformen mit dem Nutzer: „Meine Services kosten nichts, aber dafür überlässt du mir deine Daten.“ Für den Nutzer ist dabei vielfach nicht transparent, was im Hintergrund abläuft. Suchmaschinen beispielsweise nutzen Suchanfragen, um präzisere Ergebnisse zu liefern, aber auch, um detaillierte Nutzerprofile aufzubauen und dadurch beispielsweise Werbung präziser zu platzieren. Ähnliche Geschäftsmodelle gibt es bei sozialen Netzwerken und vielen anderen Diensten, die sich in den vergangenen Jahren etabliert haben.
Kennzeichnend ist für diese Services, dass es sich um „Big Data“-Anwendungen handelt, also exorbitant große Datenmengen genutzt werden. Wertvoll werden die aufgezeichneten Datenbestände insbesondere dadurch, dass die Datensätze zeitlich und nutzerübergreifend miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dadurch lassen sich über mathematische Verfahren Erkenntnisse gewinnen, die die Dienstleistungen verbessern, aber gleichzeitig für den einzelnen Nutzer gravierende Konsequenzen haben können. Diese zwei Seiten von Big Data machen eine Regelsetzung schwer – wie sollen die Interessen von Plattformen und Nutzern ausbalanciert werden, wenn ein großer Nutzen, z.B. im Gesundheitsbereich, nur um den Preis einer potenziellen Invasion der Privatsphäre jedes Einzelnen möglich ist? Ein solches Dilemma lässt sich zufriedenstellend nur durch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse auflösen. Dafür ist es höchste Zeit, denn Big Data ist bereits in vielen Bereichen Realität und entwickelt sich mit dem für digitale Technologien kennzeichnenden Tempo weiter fort.
Das Thema ist aus Regulierungssicht sehr komplex, weil es Charakteristika besitzt, die durch die bekannten Mechanismen nicht ausreichend eingefangen werden. Die Herausbildung von Plattformen, die aufgrund von Netzwerkeffekten vielfach Monopole sind, erfolgt erst seit ca. zehn Jahren. In der Regel sind diese Plattformen im außereuropäischen Ausland angesiedelt, was die Einforderung von Standards, die mit europäischen Vorstellungen von Privatsphäre zu vereinbaren sind, schwierig macht. Hinzu kommt, dass sich die Vorstellungen von Privatheit im Laufe der vergangenen Dekaden gewandelt haben. Das aktuelle Datenschutzrecht ist zu Beginn der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts entstanden und basiert auf den Grundsätzen der Datenvermeidung und Datensparsamkeit. Das Verhalten der meisten Nutzer von digitalen Technologien im digitalen Raum ist allerdings konträr zu diesen Begriffen. Und Big Data ist, im Kern, die Antithese zur Idee der Datensparsamkeit.
Im Projekt zum „Digitalen Kodex“ wird Big Data anhand von zwei konkreten Themen erschlossen: Smart Health und Smart Mobility. Beiden Bereichen ist gemeinsam, dass Tracking eine wesentliche Rolle spielt – im Gesundheitsbereich z.B. durch die Aufzeichnung von Daten zu Körperfunktionen wie Bewegungsintensität und Pulsfrequenz über Fitnessarmbänder, im Verkehrsbereich durch die kontinuierliche Verfolgung des Aufenthaltsorts und Daten zur Fahrweise wie z.B. Brems- und Beschleunigungsprozesse. An beiden Beispielen lässt sich leicht dokumentieren, dass es zwischen Chancen und Risiken gesellschaftliche Konfliktlinien gibt, die noch nicht ausreichend konturiert sind.
Big Data im Smart-Health-Bereich eröffnet für die Nutzer bzw. auch ihre Ärzte weitreichende Einsichten in ihren Gesundheitszustand. Viele Nutzer von Fitnessarmbändern und Pulsuhren teilen darüber hinaus ihre Errungenschaften im sportlichen Freizeitbereich auf sozialen Netzwerken mit ihren Freunden. Diese Entwicklung kulminiert in der „Quantified Self“-Bewegung, die den Einsatz digitaler Medien zur gesundheitlichen Selbstoptimierung propagiert. Versicherungsunternehmen haben diese Ideen schon weiter gedacht, und einzelne Unternehmen planen Angebote mit speziellen Tarifen, die Kunden, die Fitnessarmbänder tragen und einen gesunden Lebensstil verfolgen, mit Rabatten belohnen. Aus Sicht der Kunden, die sich darauf einlassen, ist das zunächst ein vernünftiges Angebot – ist es nicht mehr als fair, wenn gesundes Verhalten auch finanziell belohnt wird? Konsequent zu Ende gedacht könnte dies allerdings bedeuten, dass es für manche Personen schwieriger werden wird, eine bezahlbare Krankenversicherung abzuschließen – der Punkt, an dem Rabattprogramme in eine Beschädigung des Solidarprinzips übergehen, ist schwer zu bestimmen. Auch im Bereich der Arbeit gibt es Entwicklungen: Manche Unternehmen führen für ihre Mitarbeiter kostenfreie Fitnessarmbänder ein, was in vielen Fällen sicherlich als interessantes Angebot gewertet wird. Denkbar ist aber, dass der soziale Druck, sich selbst zu tracken, dadurch steigt.
Auch im Mobilitätsbereich zeigt sich Tracking von zwei Seiten. Es wird erwartet, dass die moderne urbane Verkehrsinfrastruktur stark davon profitieren würde, wenn die Informationen über die Position von Fahrzeugen zusammengeführt und ausgewertet werden könnten. Einzelne Städte wie z.B. Stockholm haben mit Big-Data-Anwendungen bereits die Verkehrsbelastung verringert, dies insbesondere auch über Verhaltensänderungen bei den Bürgern, denen Verkehrsinformationen und -alternativen auf Basis von Big-Data-Analysen z.B. zur Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs in Echtzeit zur Verfügung gestellt werden. Auch in diesem Bereich interessieren sich Versicherungen für Tracking-Daten. Über sogenannte Telematik-Boxen werden Informationen zum Fahrverhalten aufgezeichnet und können zur Anpassung von Versicherungstarifen genutzt werden. Selbst die Uhrzeit und die Fahrstrecke können bei vergrößerter Unfallwahrscheinlichkeit (z.B. bei Nacht- und Stadtfahrten) in die Tarife eingerechnet werden. Auch hier ist der Punkt, an dem sinnvolle Anreize für vernünftiges Verhalten in eine Beschränkung der persönlichen Freiheit umschlagen, schwer zu bestimmen.
Im Projekt werden diese beiden Themen mit einem Zugang über „ausgehandelte Geschichten“ verfolgt. Darunter werden konkrete Alltagssituationen verstanden, an denen sich die Konflikte für alle beteiligten Akteure herausarbeiten lassen. Das Ziel ist, zunächst einen Überblick über die gesellschaftlichen Wertentscheidungen zu gewinnen, die dann ggf. in spezifische Digitale Kodizes zu Einzelthemen einfließen könnten. Die ersten Diskussionsrunden mit Experten sind sehr vielversprechend verlaufen, und das Projekt knüpft zurzeit Kontakte zu Akteuren, die im Rahmen eines Konsultationsprozesses eingebunden werden.