Hamburg/Berlin – Eine Untersuchung, welche die Etablierung eines Digitalen Kodex anvisiert, muss natürlich den Grundbegriff „Kodex“ näher bestimmen. Alltagssprachlich verstehen wir unter einem Kodex eine Sammlung von Verhaltensregeln, die für eine gesellschaftliche Gruppe oder die ganze Gesellschaft Geltung besitzt.
Allerdings ist ein solcher Begriff recht unscharf, sodass sämtliche geschriebenen oder ungeschriebenen Verhaltenskataloge Kodizes genannt werden könnten. Wenn man sich jedoch Kodizes ansieht, die unter diesem Namen in Kraft sind, dann fällt auf, dass sie sich fast immer auf eine Berufsgruppe beziehen.
Kodizes wären demnach Verhaltenskataloge der besonderen Art. Sie spitzen zentrale moralische Prinzipien und soziale Normen mithilfe von Praxisregeln auf ein Berufsfeld zu. Sie formulieren Grundsätze des handwerklichen Könnens und sie geben in der Regel auch an, warum diese Verhaltensregeln für diese Gruppe überhaupt aufgestellt werden: wegen der gesellschaftlich bedeutsamen Funktion eines Berufsstandes.
Hinzu kommen drei Besonderheiten:
- Kodizes scheinen immer eine „externe“ Beobachtungsinstanz mit sich zu bringen, die eine Kontrollfunktion übernimmt, beim Pressekodex zum Beispiel den Presserat.
- Nicht selten werden Kodizes von Repräsentanten des jeweiligen Berufsstandes selbst ins Leben gerufen. Diese kontrollieren die Umsetzung ihres eigenen Kodex im Zweifel weniger streng als ein Gremium, dessen Mitglieder dem Berufsstand nicht angehören.
- Kodizes sollen eine weitergehende Professionalisierung vorantreiben, Orientierung ermöglichen, Reflexion anstoßen, öffentlich wahrnehmbare Korrekturen anmahnen und ein Selbstbild der Profession etablieren.
Diese Auffassung des Kodex-Begriffs passt sehr gut zur Gegenwartsgesellschaft. Sie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sich das meiste in ihr durch organisatorisches Handeln vollzieht. Die in Organisationen handelnden Menschen sind in der Regel auf eine rollenspezifische Aufgabenverantwortung ausgerichtet, die ihnen durch die Organisation übertragen wird. Dies verhindert freilich nicht, dass sie als Personen moralisch verantwortlich sein können (und vielleicht auch wollen) und dass Aufgabenverantwortung und moralische Verantwortung in Widerspruch stehen können.
Ein Kodex, der sich auf professionelles Rollenhandeln bezieht, ist insofern ein interessantes Korrektiv zu den von Organisationen formulierten Aufgabenverantwortungen, die primär über Geschäftsinteressen definiert sind. Er appelliert an professionelle Akteure, in ihrem Handeln Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die gesellschaftlich oder moralisch als relevant erachtet werden. Denn diese Akteure – dazu zählen auch Plattform-Anbieter – haben großen Einfluss auf gesellschaftliche Aspekte oder moralische Güter.
Um welche Aspekte oder Güter es sich bei Plattform-Anbietern handelt, wäre zu untersuchen. Ebenso, ob aus den sich an individuelle Akteure richtenden Verhaltenskodizes Erkenntnisse abgeleitet werden können, die sich auf Kodizes für Organisationen bzw. die in Organisationen – Plattformen – handelnden Verantwortlichen übertragen lassen.
Der vorgeschlagene „Kodex“-Begriff ist durchaus kompatibel mit dem zentralen Moralbegriff moderner Gesellschaften: Verantwortung. Dieses Zuschreibungskonzept für Handlungsfolgen (oder Aufgaben) hat sich gegenüber anderen Begriffen, wie beispielsweise der Pflicht, durchgesetzt, weil es das Wissen um die Relevanz von Handlungsmacht bereits impliziert.
Je größer die Handlungsmacht und je weitreichender die Einflussmöglichkeiten von jemandem sind, desto mehr Verantwortung trägt er für sein Handeln oder das Unterlassen von Handlungen.
Wenn man die vorgeschlagene Verwendung des Begriffs Kodex akzeptiert, folgt daraus, dass sich ein Digitaler Kodex in direkter Weise auf Organisationen bzw. auf die sie repräsentierenden Akteure bezieht. Adressaten sind also theoretisch zunächst einmal Träger professioneller Rollen. Sofern er sich auf den Akteur „zentrale Kommunikationsplattform“ beziehen soll, müsste er sich auf die relevanten, also gestaltungsmächtigsten Rollenträger dieser Organisationen als Regelungsadressaten beziehen. Das bedeutet keineswegs, dass die anderen Akteure bei der Erarbeitung, Implementierung und Umsetzung eines Kodex keine Bedeutung haben. Sie werden sich jedoch als Regelungsadressaten aus Effizienzgesichtgründen kaum eignen.
Es wird deutlich, dass der Adressat eines Digitalen Kodex – wenn man den eingebrachten Begriffsvorschlag probehalber akzeptiert – kein politischer Akteur sein kann. Wollte man den Kodex so ausrichten, so müsste er beispielsweise ein Kodex für medienpolitische Akteure sein. Damit wäre das anvisierte Regulierungsfeld verfehlt. Gleichwohl aber kann es wünschenswert sein, dass die Idee eines Digitalen Kodex aus dem politischen Feld Unterstützung erhält.
Eine weitere entscheidende Frage betrifft die Nutzer von Online-Plattformen: Können sie Adressaten eines Digitalen Kodex sein? Die Antwort lautet im Zweifel: Nein. Ein Digitaler Kodex könnte Nutzer nicht direkt adressieren, sondern nur indirekt über den Weg eines Anbieter-Kodex.
Um dies zu begründen, muss man sich auf der Begriffsebene ansehen, worauf der Plural „die Nutzer“ referiert. „Die Nutzer“ sind kein stabiles soziales Gebilde. Nutzer formieren sich von Fall zu Fall in der aktiven Hinwendung zu und Partizipation an medialen Angeboten, auch an Plattform-Angeboten.
Wenn man Nutzer von zentralen Plattformen charakterisieren möchte, dann scheint die aussichtsreichste Möglichkeit darin zu bestehen, zu beobachten, aus welchen Motiven sich Individuen diesem Angebotstyp zuwenden. Und es ist wichtig, sich dabei klarzumachen, dass man die Motive von Individuen beobachtet, aus denen erst, zum Beispiel durch Clusteranalysen, statistische Gruppen konstruiert werden.
Dass auf Plattformen wie Facebook durchaus soziale Gruppen als Interessengemeinschaften entstehen können, liegt auf der Hand. Das ändert aber nichts daran, dass es eine homogene Gruppe der Kommunikationsplattform-Nutzer als existierendes soziales Gebilde nicht gibt. Ebenso wenig wie „die Gesellschaft“ an sich eine kohärente Gruppe ist, existiert eine Netzgemeinde als stabiles soziales Gebilde.
Dieser Punkt ist für die generelle Frage, inwieweit Nutzer (oder gar die Netzgemeinde) als Adressaten eines Digitalen Kodex fungieren können, von entscheidender Bedeutung. Im Unterschied zu Nutzern sind die Anbieter von zentralen Kommunikationsplattformen als stabile soziale Gebilde auszumachen: Zentrale Plattformen sind im Regelfall privatwirtschaftliche Unternehmen, also Organisationen, deren individuelle Akteure über professionelle Rollen identifizierbar sind.
Einige dieser Rollenträger haben die Aufgabe, das Plattform-Angebot zu gestalten, andere repräsentieren die Organisation: Sie sind die entscheidenden Stellen, an denen Verantwortungszuschreibungen festgemacht werden können. Dadurch wird klar, dass ein Digitaler Kodex die Nutzer von Online-Angeboten nicht direkt adressieren kann, wenn er Erfolg haben will.
Die Absicht, dass Nutzer bestimmte soziale Normen berücksichtigen, lässt sich kaum über generelle Appelle erreichen. Es ist nicht verwunderlich, dass die meisten Beeinflussungsversuche von staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Seite auf medienpädagogische Maßnahmen und auf allgemeine Beratungsangebote zielen – mit dem Ziel, die neuen Generationen von vornherein für die Probleme einer digitalen Lebenswelt zu sensibilisieren.
Das muss für einen Digitalen Kodex aber keineswegs bedeuten, dass er Nutzer nicht als Zielgruppe aufnehmen kann. Der Weg eines Kodex jedoch, der für Nutzer etwas erreichen oder Nutzer beeinflussen will, müsste über die Anbieter führen.
Wie die Ausgestaltung eines Digitalen Kodex, der sich primär auf Anbieter bezöge, aussehen könnte und wie nutzerbezogene Regeln oder Schutzrechte darin ausgestaltet werden könnten, wäre Gegenstand weiterer Diskussionen – ebenso wie die Fragen, wer einen Digitalen Kodex installieren könnte und ob für seine Anwendung praktikable Sanktionsmechanismen oder Anreizsysteme gefunden werden könnten.