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Mit der Compunikation leben

11. Januar 2018

Mit der Compunikation leben

Foto: Africa Studio – iStockphoto.com

Eine Wirtschaft, die auf immerwährendes Wachstum ausgerichtet ist, braucht geradezu grenzenlose Projekte rund um künstliche Intelligenz.

Von Horst W. Opaschowski

Compunikation als erweiterte Kommunikation. In meiner beruflichen Rolle als Zukunftsforscher bot ich im Wintersemester 1980/81 an der Universität Hamburg folgende Lehrveranstaltung an: „Compunikation. Kommunikation aus der Steckdose: Traum oder Alptraum?“ – zu einer Zeit, als es noch kein Internet und keinen Computer für jedermann gab, wir noch 37 Jahre auf das iPhone warten mussten und der deutsche Blogger und Internet-Experte Sascha Lobo gerade einmal fünf Jahre alt war … „Compunikation“ beschrieb ich seinerzeit als eine „über Computer und Mikroprozessoren gesteuerte Kommunikation“, die neue „(steck)dosierte Erfahrungen“ ermöglichen würde. Im kommentierten Vorlesungsverzeichnis wurde die Lehrveranstaltung mit den Worten angekündigt: „Droht die Compunikation zum Ersatz für die unmittelbare persönliche Kommunikation zu werden?“

War die Fragestellung im Oktober 1980 utopisch, fantastisch oder sarkastisch? Nein, es war ein Szenario nur, das nicht einmal das Leben schrieb, das so oder ähnlich gar nicht Wirklichkeit werden musste. Jetzt aber, 37 Jahre später, kann ich nach den Ergebnissen einer aktuellen Repräsentativumfrage 2017 nachweisen: Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland (58 %) ist mittlerweile davon überzeugt, dass für die junge Generation „Soziale Netzwerke im Internet wichtiger als persönliche Kontakte mit Freunden sind“ (O.I.Z 2017).

Diese subjektive Einschätzung der Bevölkerung entspricht auch der Alltagswirklichkeit. In Deutschland gibt es mittlerweile mehr Handys als Menschen. Seit der Jahrtausendwende hat sich das Surfen im Internet fast verzehnfacht, während sich seither die Unternehmungen mit Freunden erdrutschartig halbiert haben. Dieser Wandel muss auf den ersten Blick wie eine Verarmung des Lebens erscheinen – für Jugendliche aber nicht: Freunde treffen und mit Freunden chatten ist für viele fast dasselbe. Freunde in der Nähe und Freunde im Netz bedeuten Kontaktvielfalt und Beziehungsreichtum – mit einem wesentlichen Unterschied: Mediennutzung kostet und frisst Zeit.

Die ARD-ZDF-Online-Studie 2017 ermittelte unlängst: 2,5 Stunden am Tag sind die Deutschen jeden Tag online – Tendenz steigend. Die persönliche Kommunikation muss deshalb im Alltag nicht verloren gehen. Die Compunikation erweist sich eher als eine zusätzliche und erweiterte Kommunikation, die das Leben in einer Mischung aus Chillen und Chatten bereichern kann.

Vertrauen als digitale Währung

Compunikation als digitale Kommunikation ist heute Normalität geworden – beruflich und privat. Jeder kann mit jedem zu jeder Zeit an jedem Ort kommunizieren. Compunikation gilt als bequem und bürgernah, aber auch als unsicher und missbrauchsgefährdet. Die Angst vor dem Verlust an drei grundlegenden Prinzipien der Kommunikation – Vertrauen, Verantwortung und Verlässlichkeit – lässt die Sehnsucht und Suche nach Sicherheit immer stärker werden.

Die Menschen drohen ihr Grundvertrauen in das Innovationsversprechen der digitalen Wirtschaft zu verlieren. Vertrauen als verlässliche Währung muss doch für die Digitalwirtschaft geradezu von fundamentalem Interesse sein: „Wenn wir das Vertrauen verlieren, verlieren wir alles“ – so die Quintessenz von Emanuel Mogenet, dem Leiter von Googles europäischem Forschungszentrum in Zürich. Das Vertrauen in die Datensicherheit ist weltweit erschüttert. Die Internet-Szenerie gleicht einer Bedrohungslandschaft. Nichts ist mehr sicher – das autonome Auto nicht, der hilfreiche Herzschrittmacher und auch das vielseitige Smartphone nicht. Alles ist manipulierbar. Wie können wir uns dagegen wehren?

Medienkompetenz durch digitale Diät

Am 29. September 1990 beendete ich einen Zukunftsvortrag auf einem internationalen Kongress in Amsterdam mit den Worten: „We have to slow down, slow down, slow down“ – wir müssen bremsen, bremsen, bremsen. Wir müssen die Entwicklung verlangsamen und auf die Bremse treten. Jetzt, im Jahr 2017, weist der israelische Historiker Yuval Noah Harari überzeugend nach, warum das Bremsen aus zwei Gründen fast aussichtslos erscheinen muss. Erstens weiß niemand, wo sich die Bremse befindet – bei den Big Data, der Nanotechnologie oder der Genetik?

Viel zu komplex erscheint das System der Künstlichen Intelligenz (KI), weshalb sich auch bisher selbst die Experten nicht einmal die Mühe machen, Antworten auf die Frage zu geben, „wohin“ wir uns bei diesem rasanten technologischen Tempo überhaupt bewegen wollen oder sollen. Und zweitens würde die Wirtschaft aus den Fugen geraten, wenn es doch jemandem gelingen sollte, auf die Bremse zu treten.

Eine Wirtschaft, die auf immerwährendes Wachstum ausgerichtet ist, braucht geradezu grenzenlose KI-Projekte und -Ziele wie z.B. das Streben nach Glück und langem Leben. Nur: Was passiert eigentlich, wenn diese KIvolution durch Gesichts- und Spracherkennung den Menschen identifiziert, kopiert oder ihm gar überlegen ist – aber am Ende außer Kontrolle gerät und nicht mehr steuerbar ist? Dann macht sich die menschheitsbedrohende Hybris breit: Wir sind besser als Gott! Spätestens dann wird jedem klar, warum schon heute Google-Ingenieure verzweifelt an einem Ausknopf tüfteln, der außer Kontrolle geratene KI-Systeme in letzter Sekunde wieder abschalten soll …

Andererseits: Die Digitalisierung als „Schöne Neue Medienwelt“ macht das Leben schneller, bequemer und abwechslungsreicher, kann helfen, Krankheiten zu heilen und den Welthunger zu reduzieren. Eine positive Entwicklung ist möglich, in der Achtsamkeit und Selbstverantwortung wieder mehr im Zentrum des Handelns stehen.

Bremse

Erste Anzeichen dafür sind erkennbar – ein neuer Trend der nächsten Generation: Digitale Diät nach dem Grundsatz „Bleib nicht dauernd dran, schalt doch mal ab!“. Das Interesse der Jugendlichen an Facebook sinkt, wie die JIM-Studie 2017 nachweist (2015: 51 % – 2016: 43 %). Eine Generation autarker User kommt auf uns zu, die im Netz selbstbestimmter agiert und davon überzeugt ist – frei nach dem Grundsatz: Wir können bremsen, wenn wir wollen. Wir können entschleunigen und das Tempo drosseln, weil wir nicht kollabieren oder im „digitalen Tsunami“ (Bill Gates) ertrinken wollen. Wir können uns durch digitale Diät jederzeit zurückziehen, vorübergehend aussteigen, also öfter den Stecker ziehen und einfach offline sein.

Oder kommen auf längere Sicht dänische Verhältnisse auf uns zu? Seit es Handys, Computer und Tablets gibt, geht die Jugendkriminalität in Dänemark zurück, so 2017 der Dänische Rat zur Kriminalitätsvorbeugung (DRK). Jahrzehntelang hatte man sich in Dänemark bemüht, Jugendliche von der Straße zu holen, damit sie nicht aus Frust oder Langeweile kriminell werden – vom Ladendiebstahl über den Drogenkonsum bis zu Vandalismus und Gewalttätigkeit. Jetzt deutet sich eine Trendwende bei der Jugend an: Cyberspace statt Straße. Jugendliche sitzen in ihrer Freizeit mehr zu Hause vor den Monitoren und Bildschirmen. Compunikation drinnen statt Kommunikation draußen.

Umdenken

Müssen im digitalen Zeitalter die Uhren wieder zurückgedreht werden? Die Gesellschaft wird zunehmend konservativer. Die Menschen sehnen sich wieder nach Bewährtem und Erhaltenswertem, nach ruhigeren Biedermeierzeiten inmitten von Samtsofas und Bücherwänden, Plattenspielern und Polaroidkameras. Erfährt der Fernseher als Lagerfeuer für die ganze Familie eine Renaissance?

Selbst eine Wiederkehr der Religion und des Religiösen ist vorstellbar, weil die Menschen wieder mehr nach der Ressource Sinn lechzen – als Antwort auf die Ort- und Wurzellosigkeit, Halt- und Heimatlosigkeit eines durchdigitalisierten Alltags. Das wäre dann eine echte Zeitenwende wie beim 11. September 2001, als das Ereignis nach einem Wort von Jürgen Habermas im Innersten der Gesellschaft „eine religiöse Saite in Schwingung versetzt“ hatte.

Der kanadische Kultschriftsteller Douglas Coupland hat die offene Frage nach der Ressource Sinn schon frühzeitig in den 90er-Jahren gestellt. In seinem Roman „Girlfriend in a coma“ lässt er am Ende seine Romanfiguren fragen: Wie können wir uns ändern, ja, wie müssen wir uns ändern? Statt wie im Koma untätig zu verharren, müssten wir – bevor die Welt sich ändert – erst einmal uns selbst verändern: „Schürft. Spürt. Grabt. Glaubt. Fragt!“ Hört nicht auf, Fragen zu stellen, zu suchen und zu forschen. Die Erde ist nicht der Himmel, aber „die Erde könnte unsere Arche sein“ (Coupland 1999). Um den nachfolgenden Generationen keinen Trümmerhaufen zu hinterlassen, endet der Roman sinngemäß mit der Aufforderung: Schafft eine humane und soziale Zivilisation: „Lasst uns eine neue Arche Noah bauen!“

Wir können an uns arbeiten und die Sinnfrage ernst nehmen. Dann werden wir vielleicht in 20 Jahren eines Morgens aus unserem Tiefschlaf aufwachen und feststellen, dass wir noch immer mit der Hand schreiben können, von unserem Schreibtisch Briefumschläge und Papier nicht verschwunden sind und selbst die Tinte im Füller nicht vertrocknet ist. Wir öffnen den Mund – und ein Laut kommt heraus. Wir haben es auch dann nicht verlernt, miteinander zu kommunizieren, laut zu lachen und einander die Hände zu schütteln.

Kontaktsuche

Sicher: Unsere Kinder werden in Zukunft lieber mit dem Homecomputer als mit dem Holzbaukasten spielen. Nur: Online- und Cybereuphorie werden bis dahin weder unser menschliches Kommunikationsbedürfnis beeinträchtigen noch unser Interesse am Lesen von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften sterben lassen. Und je mehr sich Homebanking und Online-Shopping ausbreiten, desto größer wird unser Bedürfnis nach persönlichen Kontakten, nach sehen und gesehenwerden beim Ausgehen oder beim Einkaufsbummel sein. Denn: Die Sinne konsumieren weiter mit. Auch in 20 Jahren werden die meisten Beschäftigten keine digitalen Nomaden sein, sondern wie bisher eher müde von der Arbeit nach Hause kommen, sich vor den Laptop oder Fernseher setzen und mit nichts anderem als ihrem Partner oder ihrem Kühlschrank interagieren …

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Der Autor

Prof. Dr. Horst W. Opaschowski

Prof. Dr. Horst W. Opaschowski

Foto: Benjamin Roeber

ist ein deutscher Zukunftsforscher und Berater für Politik und Wirtschaft.

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