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Der digitale Wandel hat in den letzten fünf Jahren politisch betrachtet eine atemberaubende Entwicklung durchgemacht. Es ist nicht mehr der Unterausschuss Neue Medien, ein Unterausschuss des Kulturausschusses, für das Thema Digitalisierung zuständig. Die Enquetekommission „Internet und Digitale Gesellschaft“ hat umfangreiches Grundlagenwissen zum Thema erarbeitet und sinnvolle Handlungsempfehlungen vorgelegt, die wir abarbeiten werden. In dieser Legislaturperiode hat der Deutsche Bundestag erstmals seit Langem einen neuen ständigen Ausschuss für die „Digitale Agenda“ eingesetzt. Dieser ist im Februar 2014 gestartet – und ich bin froh, dass es ihn gibt.
Angesichts dieser Entwicklung erreicht mich eine Vielzahl an Anfragen zur Teilnahme an Podiumsdiskussionen, als Redner auf einer Veranstaltung oder als Autor eines Beitrags. Die gewachsene Bedeutung des Themas misst sich auch in einer Zunahme dieser Anfragen.
Für mich sind diese gewachsene Bedeutung des Themas und das Interesse an den Positionen meiner Fraktion dazu aber regelmäßig auch Anlass für Begriffsreflexionen. Es gibt seit Jahren eine engagierte Community, die das Thema groß gemacht und auch politisch für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Im Sinne der Sache bin ich dafür sehr dankbar, auch wenn wir durchaus harte Diskussionen geführt haben. Das Thema „Netzpolitik“ ist dennoch seinen Wurzeln entwachsen und erwachsen geworden. Es geht nicht mehr nur um das „Netz“, also um den Umgang mit dem, was online stattfindet. Es geht um die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen, politischen, ja allumfassenden Auswirkungen der Ausbreitung des Internets in alle Lebensbereiche. Das Internet verändert das reale Leben – in allen Bereichen. Es geht um nicht weniger als die Gestaltung des radikalen digitalen Umbruchs. Daher: Die „Netzpolitik“ ist gewachsen – es lebe die Digitalisierungspolitik!
Am Beginn der Netzpolitik stand die Urheberrechtspolitik, groß geworden mit den Auswirkungen von Peer-to-Peer-Filesharing. Napster war Anfang der 2000er-Jahre die erste große Community im Netz. Gleichzeitig läutete Napster den ersten Umbruch einer klassischen Industrie, der Musik- und Filmwirtschaft, ein. Aus heutiger Perspektive sind Formate wie MP3 – und entsprechende Abspielmöglichkeiten – nicht mehr wegzudenken. Rückblickend erscheinen die damit verbundenen Debatten um das Thema Urheberrecht fast zeitlos. Gerade erst hat der neue EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Günther Oettinger, für Sommer 2015 Vorschläge für eine EU-Urheberrechtsreform angekündigt, damit das Urheberrecht fit für das digitale Zeitalter gemacht wird.
Es folgte eine Phase, in dem die Möglichkeiten des Internets zur Begründung für eine Forderung nach allumfassender Transparenz herangezogen wurden. Parteien wurden auf dieser Idee gegründet – und sind an der Realität gescheitert. Transparenz von Regierung und Verwaltung sind wichtig. Sie sind Grundlage für offene Gesellschaften und plurale Demokratie. Aber sie muss diesem Ziel dienen – und ist kein Selbstzweck.
Politik, die sich mit der geschilderten Auswirkung des Netzes befasst, ist heute Digitalisierungspolitik. Die erfolgreiche Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ist die große Zukunftsaufgabe. Wir müssen mit dem Irrglauben aufräumen, dass es Bereiche gibt, die davon nicht betroffen sind – oder gar „verschont“ bleiben. Das Internet ermöglicht eine vollkommen neue Form der (Zusammen-)Arbeit und der Wertschöpfung. Das verändert Wirtschaft und Gesellschaft massiv, ist Chance und Herausforderung zugleich.
Für den neu eingesetzten Ausschuss Digitale Agenda des Deutschen Bundestages besteht darin die Möglichkeit, die digitale Transformation in ihrer gesamten Breite zu betrachten. Mit seiner Einsetzung hat der Bundestag die Digitalisierung als Querschnittsaufgabe erkannt. Es ist für die Mitglieder des Ausschusses heute normal, mit Finanzkollegen über die Verbesserung der Situation junger Gründer zu sprechen, mit den Kollegen aus dem Innenausschuss über IT-Sicherheit zu verhandeln, mit den Fachleuten zur Bildung über die Möglichkeiten der Digitalen Bildung zu beraten oder über das Zukunftsthema Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft gemeinsam mit den Gesundheitspolitikern eine Anhörung zum Thema „E-Health“ durchzuführen. Schon heute werden so Debatten geführt, die noch vor fünf Jahren unvorstellbar gewesen wären.
Dennoch muss das Augenmerk zukünftig noch stärker auf der ökonomischen Bedeutung und den Chancen der Wertschöpfung durch Digitalisierung liegen. Digitalisierungspolitik ist die neue Industriepolitik. Die oft bemühte Vision einer Ökonomie der Digitalisierung, in der der Nutzen eines Produktes wichtiger ist als der Besitz, ist eine zentrale Herausforderung gerade für Deutschland. Unsere Stärke liegt heute noch in Ingenieuren, im Maschinenbau und in der Automobilindustrie. Diese traditionell starke klassische Industrie wird von dieser Veränderung tief erschüttert werden. Um das Schlagwort „share economy“ auf den Punkt zu bringen: Wenn sich mehrere Menschen ein Auto teilen, brauchen im Zweifel weniger Menschen ein eigenes Auto. Diese Aussage stellt das Geschäftsmodell einer Branche, die auf den Verkauf von Fahrzeugen setzt, vollkommen auf den Kopf. Die klassische Wirtschaft merkt jetzt, was vor Jahren schon die Unterhaltungsindustrie schmerzlich feststellen musste.
Das Internet der Dinge, die Entstehung von Null-Grenzkosten-Produkten, der Entfall von Transaktionskomplexität und -kosten, das Unbundling von Produkten, die „share economy“ – allesamt Entwicklungen, die vor allem nach ökonomischer Betrachtung verlangen. Eine Perspektive, die in den letzten Jahren vernachlässigt wurde.
Die eine endgültige Antwort auf diese Auswirkungen der Digitalisierung in Deutschland kann man heute nicht geben. Ich bin aber überzeugt, dass die Zukunft der klassischen Industrie nur funktioniert, wenn die Möglichkeiten datengestützter Geschäftsmodelle genutzt werden. Industrie 4.0 heißt, dass Daten und Dienste Einzug in die Industrieproduktion halten und neue Geschäftsmodelle erschließen. Daten sind beliebig oft kopierbar; wirtschaftlich ausgedrückt: Die Grenzkosten existieren nicht mehr. Oder, wie es jüngst Prof. Justus Haucap in einer Anhörung des Ausschusses Digitale Agenda ausdrückte: „Daten bzw. Informationen [haben] aus ökonomisch-theoretischer Sicht Eigenschaften von öffentlichen Gütern. Als öffentliches Gut bezeichnen Ökonomen solche Güter, die grenzkostenlos mehrnutzbar bzw. nichtrivalisierend in der Nutzung sind.“
In der digitalisierten Wirtschaft sinken die Transaktionskosten drastisch. Als Politik sind wir nicht der bessere Unternehmer, aber wir müssen einen ausgewogenen Rechtsrahmen zum Beispiel für den Datenschutz sicherstellen, der Innovationen ermöglicht. Der Wettbewerb in diesem Umfeld ist global, Deutschland begegnet diesem Umfeld mit einer Kleinstaaterei von 16 + 1 Datenschutzbeauftragten, deren Schwerpunkt augenscheinlich auf der Verhinderung von Datennutzung liegt. In politischen Diskussionen begegnet mir oft das Argument, der hohe deutsche Datenschutzstandard müsse Vorbild für Europa und damit Standortfaktor der Zukunft sein. Diese Argumentation hinkt – datenschutzfreundliche oder datensparsame Geschäftsmodelle und Angebote setzen sich auch in Deutschland nicht durch.
Die Debatte um den Datenschutz von Anwendungen bei Kurznachrichten-Apps hat der millionenfachen Nutzung in Deutschland nicht geschadet – obwohl es „sicherere“ Produktalternativen gibt. Trotz strenger deutscher Datenschutzgesetze erleben wir eine Situation wie im Wilden Westen: Der Stärkere gewinnt. Ein vernünftiger Datenschutz muss zukünftig stärker differenzieren können zwischen sensiblen Daten und unkritischen Diensten. Dies muss sich auch in der Datenschutzgrundverordnung spiegeln, die keine Käseglocke für die europäische Internet-Wirtschaft werden darf. Das Datenschutzrecht ist entstanden als Abwehrrecht gegen den Staat, weil übermächtige Behörden persönliche Daten erfasste und sich der Bürger dagegen nicht wehren konnte. Es wäre eine Perversion dieser Gedanken, sollte künftig aufgrund zu strenger Opt-in-Regelungen aus Europa eine Situation entstehen, in der unbegrenzt alle persönlichen Daten gesammelt werden, aber nur von den großen US-Playern, die immer ein Opt-in erhalten werden und dann Gatekeeper über diese Daten für europäische Gründer werden. Diese Gefahr scheint derzeit sehr real.
Im Kontext der Digitalisierung stiftet Datenverarbeitung einen exponentiellen Nutzen mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Potenzialen. Schon jetzt sind Autos rollende Computer. Schon jetzt ist eine unüberschaubare Anzahl von Sensoren für Fahrzeugfunktionen verbaut, die nicht nur im Fahrzeug gespeichert sind, sondern zunehmend das Auto auch verlassen (Zukunftsthema Car to X), um mit anderen Fahrzeugen oder Verkehrssystemen zu kommunizieren. Das selbstfahrende Auto demonstriert die Herausforderungen der Zukunft. Eine Antwort muss aber sein, Deutschland von einem Konsumentenmarkt von IT-Produkten zum Anbietermarkt für die digitalisierte Industrie zu entwickeln. Dafür haben wir im internationalen Vergleich exzellente Startvorteile: Der Industrieanteil in Deutschland an der Wertschöpfung ist sehr hoch – diesen Vorsprung müssen wir nutzen!
Die Frage der Internet Governance wird in diesem Zusammenhang weitestgehend vernachlässigt. Bei der Definition von Standards im Rahmen der Selbstorganisation des Internets müssen aus Deutschland und Europa staatliche Akteure, Wirtschaft und die Zivilgesellschaft mit am Tisch sitzen. Es ist mir deshalb ein wichtiges Anliegen, die Arbeit auf deutscher und europäischer Ebene zu verzahnen. Mit Günther Oettinger als neuem EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft haben wir einen idealen Ansprechpartner in Europa. Die erste Delegationsreise der Arbeitsgruppe Digitale Agenda führte uns deshalb bereits Ende September nach Brüssel. Viele Themen, die in Deutschland diskutiert werden, spielen auch in Europa eine Rolle, deshalb wollen wir als Fraktion zukünftig regelmäßig mit den relevanten Akteuren in Brüssel zusammentreffen. Die Vollendung eines digitalen Binnenmarktes für Europa ist dabei zentral für eine international wettbewerbsfähige digitale Wirtschaft in Europa.