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Von Prof. Dr. Dirk Heckmann
In seiner Osterbotschaft 2012 kritisierte der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, die Gefahren des Internets, das wie die Sucht nach Alkohol, Medikamenten oder Drogen zu den „versklavenden Götzen unserer Zeit“ zähle. Zitat: „Es muss uns nachdenklich stimmen, wenn manche Zeitgenossen im Schutz der Anonymität Meinungsfreiheit im Internet als Freibrief für Hetze, Diffamierung und Mobbing missverstehen.“
Gemeint sind damit Fälle des sogenannten Cybermobbing, also Beleidigungen, Verleumdungen und Stalking im Internet. Es geht also um Straftaten jenseits der Fälle erlaubter Meinungsäußerung. Cybermobbing hat nicht nur eine große praktische und gesellschaftliche Relevanz. Es ist geradezu – leider – Alltag, auch und besonders im Internet mit seiner interaktiven Ausprägung des Web 2.0.
Inwieweit hier die Anonymität der Internet-Nutzung eine Schlüsselrolle spielt, ist noch nicht ganz geklärt. Es gibt noch zu wenige, wissenschaftlich vertiefte empirische Erkenntnisse, insbesondere zur Frage der Enthemmung und Senkung der Hemmschwellen durch Verbergung der Identität. Die erste groß angelegte Studie durch die Universität Hohenheim startete erst in diesem Jahr. Die im März 2012 veröffentlichte Sinus Milieu-Studie des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet befasst sich nur mittelbar mit diesem Thema.
Deshalb kann man derzeit nur darüber mutmaßen, inwieweit anonymes Handeln eine signifikante Ursache für solches kriminelles Verhalten der Internetnutzer darstellt. Man kann aber davon ausgehen, dass es nicht wenige Fälle gibt, in denen die zumindest vermeintliche Anonymität tatentschlussfördernd ist. Die Schaffung einer IT-Infrastruktur mit ihren technischen, sozialen und rechtlichen Bedingungen zum Schutz der Anonymität ist zumindest mit ursächlich für diese Form der Alltagskriminalität. Allemal spielt die Wirkung einer erschwerten Strafverfolgung bei Zulassung von Anonymität eine wichtige Rolle.
Wenn man genau hinsieht, dann befindet sich der Staat, insbesondere der Gesetzgeber, in einem Dilemma. Egal wie viel oder wie wenig er die Internet-Nutzung im Hinblick auf die Zurechenbarkeit des Nutzerverhaltens regelt: Er kann eigentlich nur verlieren. Gewährleistet er die Anonymität der Internet-Nutzung, verletzt er möglicherweise die Pflicht zum Schutz der Bürger vor kriminellen Übergriffen. Sorgt er hingegen für wirksame Kontrollmechanismen, dann verletzt er möglicherweise das Grundrecht auf Anonymität.
Die Möglichkeit zu anonymem Handeln (nicht nur, aber auch im Internet) gehört zur grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsentfaltung und ist Teil informationeller Selbstbestimmung, Meinungsfreiheit und Gewährleistung von Privatheit. Das Grundrecht auf Anonymität kann hergeleitet werden aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 5 Abs. 1, 10 und 13 GG. Dieses korrespondiert mit der informationellen Selbstbestimmung, wonach jeder selbst entscheidet, wer erfährt, welches Handeln von ihm stammt.
Auch für das Grundrecht auf Anonymität gibt es – wie für jedes andere Grundrecht – verfassungsrechtliche Schranken. Das zeigen besonders Art. 2 Abs. 1 GG, wo von den Rechten Dritter die Rede ist, und Art. 5 Abs. 2 GG, der das Recht der persönlichen Ehre betont. So wird Anonymität beschränkt durch die Schutzpflicht des Staates, für die Zurechenbarkeit menschlichen Handelns zu sorgen, wenn dies zum Schutz höherrangiger Schutzgüter erforderlich und verhältnismäßig ist. Auch in seiner Ausprägung als Recht auf anonymes Handeln berechtigt das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit nicht dazu, andere Menschen zu beleidigen, zu verleumden oder anderweitig zu verletzen. Im Gegenteil: Wenn und soweit Anonymität solchen Rechtsverletzungen Vorschub leistet oder ihre Verhinderung bzw. Verfolgung erschwert, bedarf es staatlicher Schutzmaßnahmen.
Und genau hier besteht das Dilemma, dass Schutzmaßnahmen, die zur Identifizierung von Personen führen, das Prinzip anonymer Internet-Nutzung konterkarieren. Es kann keine Anonymität geben, die nur die Guten schützt. Behält man sich selbst eine nachträgliche Identifizierung vor, entstehen automatisch Schutzlücken. Das Dilemma ist bereits im Recht angelegt.
Letztlich sind Schutzgutverletzungen, die unter dem Deckmantel anonymer Internet-Nutzung geschehen, auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Rücksichtslosigkeit und Egoismus äußern sich täglich in unterschiedlichen Kontexten, nicht nur im Internet. Eine freiheitliche Gesellschaft muss lernen, damit umzugehen.
Als durch das Grundgesetz freiheitlich konzipierte und ebenso denkende und handelnde Gesellschaft lassen wir täglich eine Vielzahl von Rechtsverletzungen, Gefährdungen und Risiken zu – und zwar für alle Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum, persönliche Ehre etc.): in komplexen Infrastrukturen wie dem Straßenverkehr oder der Lebensmittelversorgung, aber auch bei technischen Anlagen.
Diese Risiken werden nicht per se gutgeheißen, aber eben doch nicht mit allen denkbaren Mitteln „um jeden Preis“ bekämpft. Denn sonst hätten wir Tempo 80 auf den Autobahnen, eine Vervielfachung der Verkehrskontrollen, permanente Hygienekontrollen, dazu Betriebsverbote für viele technische Anlagen. Dass dies nicht geschieht, liegt keineswegs an den fehlenden Ressourcen staatlicher Kontrollinstanzen, sondern vielmehr an der Grundeinstellung, Freiheit und Sicherheit in eine verträgliche Balance zu bringen.
Soweit aber staatliche Gefahrenvorsorge und Kriminalitätsbekämpfung per Mausklick mit überschaubarem Aufwand möglich erscheinen, wird schnell vergessen, dass solch eine Sicherheitsverwaltung mit einer erheblichen, in anderen Fällen nicht gewollten Einschränkung grundrechtlich verbürgter Freiheit einhergeht.
Was auch leicht übersehen wird: Bei der Güterabwägung sind neben den individuellen Schutzpositionen auch schädliche Neben- und Fernwirkungen einer umfassenden Speicherung von Zurechnungsdaten zu berücksichtigen. Das in technischen Innovationen enthaltene permanente Überwachungs- und Kontrollpotenzial muss vor dem Hintergrund des Persönlichkeits- und Privatsphärenschutzes kritisch hinterfragt werden; ein abstrakter Sicherheitszugewinn rechtfertigt keine konkreten Freiheitsbeschränkungen.
Was aber sind die Alternativen? Was sagen wir den Opfern jener Freiheitsverwirklichung wie Cybermobbing, die nur unvollkommen unterbunden werden, wenn man die technischen Kontrollmöglichkeiten nicht ausschöpft? Man kann nicht einerseits eine freie Internet-Nutzung fordern, und andererseits die Opfer des Missbrauchs solcher Freiheit gewissermaßen als „Kollateralschaden“ schutz- und hilflos zurücklassen.
Was wir brauchen, ist eine Art Anonymitätsfolgenausgleich. Und das ist etwas ganz anderes als die plumpe Aufhebung der Anonymität, denn die bringt uns nur zurück ins Dilemma. Wenn eine Gesellschaft die Freiheit der Internet-Nutzung in den Vordergrund stellt und damit missbilligend, aber eben doch in Kauf nimmt, dass es Fälle des Mobbing etc. gibt, dann muss sie für einen Ausgleich sorgen. An dieser Stelle können die Eckpunkte einer solchen Kompensation nur skizziert werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt:
Auf diese Weise braucht anonyme Internet-Nutzung nicht generell in Frage gestellt werden. Deren Vorteile, besonders im Hinblick auf Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz, bleiben aufrechterhalten.
Prof. Dr. Dirk Heckmann
Prof. Dr. Dirk Heckmann studierte an der Universität Trier von 1978 bis 1983 Rechtswissenschaften. Nach seiner mit dem Carl-von-Rotteck-Preis ausgezeichneten Promotion (1991) an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg und seiner Habilitation im Jahr 1995 erhielt er einen Ruf an die Universität Passau. Seit dem Sommersemester 1996 ist Heckmann dort ordentlicher Professor für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht; seit 2009 lehrt er auch an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. 2003 wählte ihn der Bayerische Landtag zum nebenamtlichen Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof. Seit 2005 leitet Prof. Heckmann die Forschungsstelle für Rechtsfragen der Hochschul- und Verwaltungsmodernisierung, die 2011 in Forschungsstelle für IT-Recht und Netzpolitik umbenannt wurde. Seit 2006 ist er auch stellvertretender Sprecher des Instituts für IT-Sicherheit und Sicherheitsrecht. 2007 wurde der Internet-Rechtler in den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Recht und Informatik, 2010 in den Vorstand des Deutschen EDV-Gerichtstag e.V. gewählt. Als Sachverständiger wirkt Heckmann seit 2007 auf dem Nationalen IT-Gipfel der Bundesregierung und seit 2010 im CSU-Netzrat.