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Chinas Gesellschaft als Treiber der Digitalisierung

8. Oktober 2018

Chinas Gesellschaft als Treiber der Digitalisierung

Foto: sacilad | Shutterstock

Anspruchsvolle Konsumenten und selbstbewusste Start-up-Unternehmer.

Von Kristin Shi-Kupfer

Es war eine Nachricht, die scheinbar so gar nicht zu der hiesigen Aufregung über Chinas digitale Entwicklung passen wollte. Chinesische Konsumenten, hierzulande vor allem als enthusiastische Nutzer neuer Technologien bekannt, probten einen kleinen Aufstand.

Anfang August machten sich Tausende wütender Kleinanleger aus dem ganzen Land auf in Richtung Finanzdistrikt im Westen Beijings. Sie wollten ihrem Frust über das Geld, das sie an windige Betreiber von Online-Kreditplattformen (auch Peer-to-Peer oder P2P genannt) verloren hatten, Luft machen. Und sie wollten die chinesische Zentralregierung in die Pflicht nehmen, das verlorene Geld zurückzuerstatten. Größere Proteste konnten die chinesischen Behörden letztlich verhindern – durch einen koordinierten Polizeieinsatz vor Ort, vor allem aber auch mithilfe des zunehmend umfassenderen digitalen Überwachungsnetzes. Womit die Wahrnehmung des Westens wiederhergestellt war: China ist eine globale Cybermacht, die ihre Bürger mit digitalen Techniken kontrollieren will.

Chinas Bevölkerung

Angekommen: Chinas Bevölkerung ist auch Treiber der Digitalisierung. (Foto: atiger | Shutterstock)

Was bei dieser Wahrnehmung oft übersehen wird: Chinas Bevölkerung ist nicht nur ein williger Empfänger, sondern auch Mitgestalter und oftmals sogar Treiber der Digitalisierung in der Volksrepublik. Wie die chinesische Zentralregierung ihre digitalen Ambitionen in punkto innovationsgetriebenes Wachstum, effizientes Regieren und globale Technologieführerschaft vorantreiben kann, wird deshalb entscheidend vom Verhalten der chinesischen Bevölkerung abhängen. Jüngste Trends zeigen, dass Chinas Gesellschaft die digitale Politik der Zentralregierung durchaus herausfordert.

China Digitalisierung

Foto: sacilad | Shutterstock

Beispiel 1: Die eingangs erwähnten Kleininvestoren. Mit der Freigabe der Peer-to-Peer-Plattformen setzte die chinesische Regierung auf ein altbewährtes Mittel der Innovations- und Wachstumsförderung. 2015 riefen Ministerpräsident Li Keqiang und der damalige Zentralbankchef Zhou Xiaochuan die Plattformen ins Leben – ohne jedoch große, umfassende gesetzliche Rahmenbedingungen aufzusetzen. Die Dynamik des digitalen Marktes sollte eine vitale Finanzierungsquelle für kleine und mittelständische Unternehmen in China schaffen.

Das gelang auch zunächst teilweise: Die Zahl der Plattformen verzehnfachte sich innerhalb von nur drei Jahren. China ist heute der weltweit finanzkräftigste P2P-Markt. Auch aus Mangel an Alternativen für lukrative Geldanlagen entstanden durch die P2P-Plattformen eine Art Geldrausch. In der Hoffnung auf schnelles, großes Geld und im Vertrauen auf staatliche Rückendeckung ließen sich Anleger auf immer aberwitzigere Zinsraten ein, an welchen die Betreiber kräftig mitverdienten. Kreditnehmer konnten die entsprechenden Rückzahlungen bald nicht mehr leisten, gefährliche Verschuldungsketten entstanden, an deren anderem Ende die Kleinanleger festsaßen.

Schließlich musste die Zentralregierung aktiv werden: Sie schloss viele unseriöse und betrügerisch agierende Plattformen und unterstellte den gesamten Bereich einer zentralen Clearing-Stelle. Die zukünftige Herausforderung: Wie kann die Zentralregierung die Rahmenbedingungen für nachhaltige digitale Marktmechanismen schaffen und dabei Wildwest-Mechanismen verhindern – ohne ein unabhängiges Rechtssystem und aufklärende Medienberichterstattung?

Beispiel 2: Der Schutz privater Daten. Sowohl chinesische offizielle Medienberichte als auch Studien ausländischer Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass Chinesen entweder keine, oder wenn doch, eine durchaus positive Einstellung zum sogenannten sozialen Bonitätssystem haben. Bis 2020 will die chinesische Zentralregierung ein umfassendes nationales System zur Bewertung von Zahlungsmoral, Verkehrsverhalten oder Online-Gewohnheiten einführen. Lokale Pilotprojekte mit „Schwarzen Listen“ und kommerzielle Modelle für je nach Punktzahl erlaubte Zugänge, zum Beispiel zu Reisebuchungen, existieren bereits. Laut der Berichte und Studien zeigt sich eine Mehrheit überzeugt von dem Argument der Regierung, dass mithilfe von Gesichtserkennung und Datenanalyse Verbrecher und Unruhestifter gefasst und die Gesellschaft sicherer gemacht würde.

Social Scoring

Die lückenlose Erfassung des Lebens wird Einfluss auf den Alltag der Menschen haben. Doch viele Bürger finden das sogar gut. (Foto: yuyangc | Shutterstock)

Eine im März dieses Jahres durchgeführte Umfrage des staatlichen Fernsehsenders CCTV und des Unternehmens Tencent Research unter rund 8.000 Teilnehmern zeigt jedoch auch einen anderen Trend: 76,3 Prozent der Teilnehmer sehen im Vormarsch von Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) in der IT eine Gefahr für ihre Privatsphäre. Rund ein Drittel (31,7 Prozent) fühlt sich bereits in der ein oder anderen Form bedroht. Und das, obwohl Peking KI zum Allheilmittel für fast alle Probleme ausgerufen hat und die eigene Forschung und Entwicklung in diesem Bereich mit massiven Investitionen vorantreibt.

Entrüstung

Auch brach ein Sturm der Entrüstung unter Chinas Netizens los, als der Chef des chinesischen Suchmaschinenbetreibers Baidu, Robin Li, ebenfalls im März dieses Jahres erklärte: „wenn Nutzer Privatsphäre gegen Bequemlichkeit, gegen Sicherheit, gegen Effizienz tauschen können, dann tun sie das in vielen Fällen“. Zwei Monate zuvor hatte das halb staatliche Komitee für Konsumentenschutz in der östlichen Provinz Jiangsu die Firma Baidu wegen illegalen Sammelns von Daten angeklagt. Baidu entschuldigte sich, ohne aber rechtliche Konsequenzen zu tragen.

Die zunehmende Sensibilität vieler Chinesen für Belange des Datenschutzes ist begründet: Denn trotz einer Reihe von jüngst verabschiedeten gesetzlichen Regelungen, die hauptsächlich Firmen und weniger Regierungsstellen in die Verantwortung nehmen, hat die Zahl von Datenschutzverletzungen in der Volksrepublik zugenommen: 2017 waren nach Erhebungen der chinesischen Forschungseinrichtung Internet Society of China rund 80 Prozent der chinesischen Internet-Nutzer von Datenverlusten (data leaks) betroffen. Es bleibt zu beobachten, wie sich das Bewusstsein und die Möglichkeiten von chinesischen Nutzern in Bezug auf Datenschutz entwickelt, wenn das soziale Bonitätssystem weiter Gestalt annimmt.

Beispiel 3: Die zunehmend selbstbewussten Start-up-Unternehmer. Die chinesische Gesellschaft ist vom Gründungsfieber gepackt. Mit einem eigenen Produkt Erfolg zu haben, ist für viele junge Chinesen attraktiver, als für andere zu arbeiten oder gar ein Leben lang Beamter zu sein. Viele wagen den Schritt in die Selbstständigkeit und bringen dabei einige Jahre Erfahrung und Netzwerke aus der IT-Branche mit. Sie tummeln sich am liebsten im Bereich der sogenannten Online-to-Offline-Dienste (O2O), wie beispielsweise Service-Apps für Essenslieferungen, oder im E-Commerce.

In großen Städten können angehende Gründer dabei in Hightech- und Kreativ-Parks Fuß fassen, die von lokalen Regierungen initiiert und bezuschusst werden. In Metropolen wie der südchinesischen Stadt Shenzhen finden Start-ups mit Hardware-Ambitionen zudem eine hohe Fabrikdichte und gut ausgebaute Logistiknetzwerke. Prototypen können dort günstig produziert und an den Kunden oder den Investor gebracht werden. Nationale und internationale Wagniskapital- Investoren befeuern Chinas Startup- Boom weiter.

China Digitalisierung 3

Foto: sacilad | Shutterstock

Chinas Regierung hat seit Anfang 2015 eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung der Start-up-Industrie auf den Weg gebracht. Im Mai 2017 richtete sie einen mit umgerechnet 2,6 Milliarden US-Dollar ausgestatteten Wagniskapital- Fonds ein. Damit sollen in erster Linie Start-ups im Hardware-Bereich unterstützt werden. Noch mehr Geld will die chinesische Führung in den Sektor locken, indem sie verstärkt Börsengänge von IT-Start-ups im Inland unterstützt und Restriktionen für ausländische Investitionen in den Bereich lockert. Insbesondere E-Commerce-Unternehmen sollen Pekings Ankündigungen zufolge von vereinfachten Registrierungsvorschriften und Steuererleichterungen profitieren können.

Talentmangel

Fragt man chinesische Start-up-Unternehmer nach der größten Herausforderung für Innovation, antworten sie mehrheitlich: der Mangel an gut qualifizierten Mitarbeitern. Im Bereich privater und staatlicher Finanzierung kann China durch die straffe politische Steuerung von oben schnell Fortschritte erzielen. Das Problem der mangelnden Talente wiegt schwerer: Es geht nicht – so jüngste Umfragen der chinesischen IT-Plattformen iResearch und Changyebang – um fehlendes Fachwissen, sondern vor allem um „Out of the box“-Denken und die Entwicklung kreativer Marketingstrategien. Dazu bräuchte China nicht nur mehr Start-up-bezogene Kurse, sondern ein offenes, pluralistisches Bildungssystem, das auch abweichende Meinungen fördert. Die Vorstöße der Regierung, westliche Lehrbücher an Universitäten zu verbieten und Forscher durch das Verbot ausländischer VPN-Verbindungen von wichtigem globalem Wissensaustausch abzuschneiden, sprechen derzeit jedoch eine andere Sprache.

Herausforderung

Chinas junge IT-Unternehmer stört dies alles wenig, solange sie zwischen Niederlassungen in Silicon Valley, Europa und China frei hin- und herreisen, ihre Mobiltelefone überall benutzen und Daten in den Clouds ausländischer Anbieter lagern können. Nur selten kritisieren sie die Abschottungspolitik Pekings. Sie arrangieren sich, wo es notwendig und gewinnfördernd ist. Ansonsten ziehen es viele von ihnen vor, die Politik einfach zu ignorieren und sich ihre eigene Welt aufzubauen. Das ist vielleicht die größte Herausforderung für die chinesische Regierung, was die angestrebte staatliche Lenkung der digitalen Innovation angeht. Sie erreicht die smarten Gründer mit ihren kollektivistischen Beschwörungen von nationaler Cybersicherheit und „westlicher Infiltration“ kaum. Was die Start-up-Unternehmer mit der Digitalisierung verbinden, ist vor allem, genauso reich zu werden wie der Alibaba-Gründer Jack Ma.

Abschied von Jack Ma

Abschied vom Vorbild. Jack Ma, Gründer von Alibaba, hat überraschend seinen Rücktritt angekündigt. Man darf gespannt sein, wie sich sein Imperium jetzt weiterentwickelt. (Foto: feelphoto | Shutterstock)

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Der Autor

Dr. Kristin Shi-Kupfer

Dr. Kristin Shi-Kupfer

leitet bei MERICS den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sinologie der Freiburger Albert-Ludwigs-Uni. Seit 2017 gehört sie zur Expertengruppe der deutsch-chinesischen Plattform Innovation des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

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