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Demokratie im digitalen Zeitalter

20. Dezember 2016

Demokratie im digitalen Zeitalter

Bild: Julia Tim | Shutterstock

Nicht alles technisch Mögliche ist auch rechtlich zulässig. Ohne eine Fortentwicklung des Grundgesetzes wird die Kluft zwischen praktizierter Demokratie und grundgesetzlichen Regelungen immer größer werden.

von Sönke E. Schulz

Das demokratische Prinzip musste sich seit jeher neuen Herausforderungen stellen. Dies gilt angesichts der Dimension des aktuellen gesellschaftlichen Strukturwandels auch und gerade für die Folgen der Digitalisierung. Daher widmet sich ein im Lorenz-von-Stein-Institut erstelltes Werk der Wandelbarkeit demokratischer Funktionsbedingungen. Dieses ist zugleich der dritte Band einer Reihe, die zuvor ausführlich die Grundrechte in den Blick nahm. Hier wie da gilt, dass die Verfassung von 1949 die heutigen technischen Möglichkeiten nicht vorhersehen konnte.

So könnte ein Parlament, rein technisch betrachtet, digital organisiert sein, ohne dass nennenswerte Einbußen im Hinblick auf die Qualität und den Echtzeitfaktor der Kommunikation in Kauf genommen werden müssten. Als Ort der Zusammenkunft und Willensbildung im durch das Grundgesetz vorgegebenen System der parlamentarischen Demokratie ist die physische Zusammenkunft des Parlaments jedoch unersetzlich.

Und auch sonst gilt: Nicht alles technisch Mögliche ist auch rechtlich zulässig. Das Konzept der Schwarmintelligenz als Zukunftsmodell der (digitalen) Demokratie ist ein Beispiel für eine technisch mögliche Form der Willensbildung, die der verfassungsrechtlichen Wirklichkeit entgegensteht. Nach dem Prinzip der Repräsentation sind Vertreter und Vertretene nicht identisch. Staatsgewalt wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen sowie durch besondere Organe ausgeübt. Sie gründen auf festen Formen, die das Internet in seiner Ubiquität nicht kennt und systembedingt auch nicht anstrebt.

Das bedeutet: Je weiter die Digitalisierung voranschreitet, ohne dass das Grundgesetz fortentwickelt wird, desto größer wird die Kluft zwischen der praktizierten repräsentativen Demokratie, also der digitale Potenziale aufnehmenden Verfassungswirklichkeit, und den grundgesetzlichen Regelungen. Die im Rahmen der Studie behandelten Teilaspekte demokratischer Staatlichkeit – Wahl, Abgeordnete und Parlament – bilden Eckpfeiler der demokratischen Grundordnung und können als Reihenfolge des Prozesses staatlicher Institutionalisierung gelesen werden, der in Gänze einer Fortentwicklung offensteht. Dies mögen folgende Ergebnisse verdeutlichen:

  • Eine den Vorgaben des BVerfG entsprechende technische Ausgestaltung des E-Votings und eine Nachbildung der Identifizierung nach dem Vorbild der Briefwahl sind grundsätzlich denkbar. Im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses ist zu hinterfragen, ob historisch gewachsene Idealvorstellungen zum verfassungsrechtlich unverbrüchlichen Bestand zählen. Noch mag der oft bemühte „Gang zum Wahllokal“ demokratisches Ideal sein. Der Einwand, maßgeblich sei nicht nur die Quantität der Wähler, sondern auch die Qualität der Wahlentscheidung (Demokratie brauche Zeit; der Gang zum Wahllokal biete Gelegenheit zur Abkühlung, zum Nachdenken), lässt sich jedoch nicht aus den verfassungsrechtlich verbürgten Wahlgrundsätzen ableiten.
  • Ob nun online oder offline gewählt, muss sich auch der Abgeordnete im digitalen Zeitalter neuen Herausforderungen stellen. Mit dem Internet, das nie vergisst und Plattformen wie „abgeordnetenwatch.de“ implementiert oder „shitstorms“ ermöglicht, wird ein hoher Druck auf ihn ausgeübt, sodass seine (von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte) Mandatsfreiheit in den Fokus rückt. Unzulässige Beeinträchtigungen bringen die neuen digitalen Kontroll- und Kommunikationsmöglichkeiten jedoch nicht mit sich, da es jeder Abgeordnete bis zu einem gewissen Grad selbst in der Hand hat, die entsprechenden Kanäle zu öffnen.
  • Technisch umsetzbare Konzepte wie z. B. das der Liquid Democracy mögen parteiintern zwar zulässig sein, für die parlamentarische Willensbildung sind sie es nicht. In einer repräsentativen Demokratie ist das Parlament gehalten, Kontakt und Rückkopplung mit den Staatsbürgern als dem Souverän zu halten. So wird ein öffentlicher Prozess der Auseinandersetzung mit Gegenständen und Meinungen angestoßen, an dessen Ende ein ausformulierter Staatswille erkennbar sein muss. Das Parlament muss qua Grundgesetz als Ort zur Herstellung einer materiellen Öffentlichkeit fungieren. Aufgabengerecht kann das Parlament dies nur, wenn sich die eine Ausübung von Staatsgewalt vorbereitende Diskussion im Parlament selbst ereignet und nicht in eine Vielzahl digitaler Kleinstforen verlagert wird.

Die Untersuchung verdeutlicht, dass das Internet, Web 2.0, elektronische Partizipation, kooperative Zusammenarbeitsformen und vieles mehr staatliches Handeln, einschließlich des demokratischen Prozesses, nachhaltig verändern. Open Government und offene Staatskunst wurden mit all ihren Erscheinungsformen bereits zu Leitbildern der bundesdeutschen, grundgesetzlich geprägten Staatlichkeit erklärt – ohne allerdings die Einpassung dieser Konzepte in das grundgesetzliche Demokratieprinzip in den Blick zu nehmen. Ein Wandel im Reformleitbild ist noch kein grundsätzlicher Paradigmenwechsel und nicht mit einer generellen Substitution der bisherigen charakteristischen Systemmerkmale gleichzusetzen. Vielmehr bleiben diese komplementär zu neuen Merkmalen wirksam, treten aber in ihrer dominanten Bedeutung in den Hintergrund. Von daher handelt es sich i. d. R. zunächst um eine die bisherige Steuerung des politisch-administrativen Systems in wesentlichen Bereichen infrage stellende Diffusion, deren Überwindung in eine Innovation mündet.

Aktuelles Korrektiv

Dabei kann gerade die Vergewisserung über die Grundkonstanten der grundgesetzlichen Demokratie zwar nicht abschließende Antworten formulieren, aktuellen und zukünftigen Debatten aber neue Impulse bieten. Gerade die fehlende Ergebnisverantwortung und -sicherung sind es, die innovativen Partizipations-, Kommunikations- und Kollaborationsformen – zum Teil zu Recht – zum Vorwurf gemacht werden. Hier gilt es, im beschriebenen Sinne der Entwicklung von Leitbildern neue prozessuale Erscheinungen mit überkommenen – zeitlosen! – materiellen Ideen zu vereinen. Das Grundgesetz enthält diesbezüglich ein unverändert aktuelles Korrektiv: Bei aller Offenheit des demokratischen Prozesses (für Online-Partizipation, Mitwirkung an der Diskussion über Twitter und andere Dienste, die elektronische Stimmabgabe, die Bereitschaft, Schwarmintelligenz anzuerkennen und als Ergänzung der repräsentativen Demokratie zu sehen) muss die Gemeinwohlorientierung staatlichen Handelns gesichert bleiben. Die überkommenen (repräsentativ) demokratischen Verfahren haben nachgewiesen, dass sie geeignet sind, diese Gemeinwohlorientierung zu sichern – und dass sie als solche derzeit wohl noch alternativlos sind. Diese „Bewährungsprobe“ steht für neue Erscheinungsformen noch aus. Sie können – dies belegt die Studie – in Ergänzung zu bestehenden Mechanismen erprobt werden.

Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.

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Der Autor

Dr. Sönke E. Schulz

Dr. Sönke E. Schulz

Foto: Privat

ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Schleswig-Holsteinischen Landkreistages und Mitautor der Studie.

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