Das demokratische Prinzip musste sich seit jeher neuen Herausforderungen stellen. Dies gilt angesichts der Dimension des aktuellen gesellschaftlichen Strukturwandels auch und gerade für die Folgen der Digitalisierung. Daher widmet sich ein im Lorenz-von-Stein-Institut erstelltes Werk der Wandelbarkeit demokratischer Funktionsbedingungen. Dieses ist zugleich der dritte Band einer Reihe, die zuvor ausführlich die Grundrechte in den Blick nahm. Hier wie da gilt, dass die Verfassung von 1949 die heutigen technischen Möglichkeiten nicht vorhersehen konnte.
So könnte ein Parlament, rein technisch betrachtet, digital organisiert sein, ohne dass nennenswerte Einbußen im Hinblick auf die Qualität und den Echtzeitfaktor der Kommunikation in Kauf genommen werden müssten. Als Ort der Zusammenkunft und Willensbildung im durch das Grundgesetz vorgegebenen System der parlamentarischen Demokratie ist die physische Zusammenkunft des Parlaments jedoch unersetzlich.
Und auch sonst gilt: Nicht alles technisch Mögliche ist auch rechtlich zulässig. Das Konzept der Schwarmintelligenz als Zukunftsmodell der (digitalen) Demokratie ist ein Beispiel für eine technisch mögliche Form der Willensbildung, die der verfassungsrechtlichen Wirklichkeit entgegensteht. Nach dem Prinzip der Repräsentation sind Vertreter und Vertretene nicht identisch. Staatsgewalt wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen sowie durch besondere Organe ausgeübt. Sie gründen auf festen Formen, die das Internet in seiner Ubiquität nicht kennt und systembedingt auch nicht anstrebt.
Das bedeutet: Je weiter die Digitalisierung voranschreitet, ohne dass das Grundgesetz fortentwickelt wird, desto größer wird die Kluft zwischen der praktizierten repräsentativen Demokratie, also der digitale Potenziale aufnehmenden Verfassungswirklichkeit, und den grundgesetzlichen Regelungen. Die im Rahmen der Studie behandelten Teilaspekte demokratischer Staatlichkeit – Wahl, Abgeordnete und Parlament – bilden Eckpfeiler der demokratischen Grundordnung und können als Reihenfolge des Prozesses staatlicher Institutionalisierung gelesen werden, der in Gänze einer Fortentwicklung offensteht. Dies mögen folgende Ergebnisse verdeutlichen:
Die Untersuchung verdeutlicht, dass das Internet, Web 2.0, elektronische Partizipation, kooperative Zusammenarbeitsformen und vieles mehr staatliches Handeln, einschließlich des demokratischen Prozesses, nachhaltig verändern. Open Government und offene Staatskunst wurden mit all ihren Erscheinungsformen bereits zu Leitbildern der bundesdeutschen, grundgesetzlich geprägten Staatlichkeit erklärt – ohne allerdings die Einpassung dieser Konzepte in das grundgesetzliche Demokratieprinzip in den Blick zu nehmen. Ein Wandel im Reformleitbild ist noch kein grundsätzlicher Paradigmenwechsel und nicht mit einer generellen Substitution der bisherigen charakteristischen Systemmerkmale gleichzusetzen. Vielmehr bleiben diese komplementär zu neuen Merkmalen wirksam, treten aber in ihrer dominanten Bedeutung in den Hintergrund. Von daher handelt es sich i. d. R. zunächst um eine die bisherige Steuerung des politisch-administrativen Systems in wesentlichen Bereichen infrage stellende Diffusion, deren Überwindung in eine Innovation mündet.
Dabei kann gerade die Vergewisserung über die Grundkonstanten der grundgesetzlichen Demokratie zwar nicht abschließende Antworten formulieren, aktuellen und zukünftigen Debatten aber neue Impulse bieten. Gerade die fehlende Ergebnisverantwortung und -sicherung sind es, die innovativen Partizipations-, Kommunikations- und Kollaborationsformen – zum Teil zu Recht – zum Vorwurf gemacht werden. Hier gilt es, im beschriebenen Sinne der Entwicklung von Leitbildern neue prozessuale Erscheinungen mit überkommenen – zeitlosen! – materiellen Ideen zu vereinen. Das Grundgesetz enthält diesbezüglich ein unverändert aktuelles Korrektiv: Bei aller Offenheit des demokratischen Prozesses (für Online-Partizipation, Mitwirkung an der Diskussion über Twitter und andere Dienste, die elektronische Stimmabgabe, die Bereitschaft, Schwarmintelligenz anzuerkennen und als Ergänzung der repräsentativen Demokratie zu sehen) muss die Gemeinwohlorientierung staatlichen Handelns gesichert bleiben. Die überkommenen (repräsentativ) demokratischen Verfahren haben nachgewiesen, dass sie geeignet sind, diese Gemeinwohlorientierung zu sichern – und dass sie als solche derzeit wohl noch alternativlos sind. Diese „Bewährungsprobe“ steht für neue Erscheinungsformen noch aus. Sie können – dies belegt die Studie – in Ergänzung zu bestehenden Mechanismen erprobt werden.
Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.