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Die Alterslücke ist eine Vertrauenslücke

16. April 2018

Die Alterslücke ist eine Vertrauenslücke

Foto: VGstockstudio –Shutterstock

Eine responsive Digitalisierungspolitik für ältere Menschen kann das ändern.

Von Herbert Kubicek

In ihrer Koalitionsvereinbarung hat sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, bei der Digitalisierung „die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit jeder daran teilhaben kann“. Dazu zählt auch „die Vermittlung von digitalen Fähigkeiten als Schlüsselkompetenz für alle Altersgruppen“. Es folgt dann aber wenig zur Erwachsenenbildung und zu digitalen Kompetenzen bei älteren Menschen. Gerade bei über 70-Jährigen besteht jedoch großer Handlungsbedarf, weil sich die schon vor 20 Jahren beklagte Alterslücke nicht verringert hat.

Abstand

Vergleicht man den Abstand zwischen den Anteilen der Internetnutzer bei den 14–19-Jährigen mit den Anteilen der Altersgruppe 60–69 und 70+, dann haben die 60–69-Jährigen gegenüber den Jungen etwas aufgeholt. Der Abstand der über 70-Jährigen beträgt jedoch wie schon 2001 immer noch 60 Prozentpunkte.

Internetnutzung in verschiedenen Altersgruppen

In absoluten Zahlen sind das über 10 Millionen Menschen. Diese Zahl ergibt sich, wenn man die in der DIVSI Ü60 Studie ermittelten Anteile der Offliner in den höheren Altersgruppen mit den Zahlen der Bevölkerungsstatistik multipliziert (Tabelle). Bedenkt man, dass die Lebenserwartung noch steigt, wird gerade der heute schon hohe Anteil der über 80-Jährigen Offliner noch steigen. Ein Dilemma vor allem für E-Health und Telemedizin.

Pilotprojekte etwa mit Technik-Botschaftern oder Internetpaten zeigen, dass das Interesse älterer Menschen am Internet durchaus geweckt werden kann. Sie sind jedoch nicht skalierbar und breitentauglich, und sie lösen ein zentrales Dilemma nicht: Viele ältere Menschen glauben, dass das Internet für sie nichts Nützliches bietet und zu kompliziert ist.

Investitionsdilemma

Um den Nutzen des Internets zu erkennen, braucht man ein Gerät für einige Hundert Euro mit Internetanschluss und eine Einweisung. Wer keinen Nutzen erwartet, wird diese Investition in der Regel nicht tätigen. Man kann von einem Investitionsdilemma sprechen. Dabei gibt es eine zeitgemäße Alternative, wie die Stiftung Digitale Chancen zusammen mit Telefonica Deutschland in einem gerade abgeschlossenen Projekt nachgewiesen hat: Dabei wurden mit einem unterstützenden Begleitprogramm Tablet- PCs mit einer SIM-Karte unentgeltlich für acht Wochen an ältere Menschen im Alter von 55 bis 91 Jahre ausgeliehen.

Generationenunterschied

Die DIVSI-Studie sieht den entscheidenden Unterschied zwischen der jüngeren und der älteren Generation vor allem im Umgang mit erwarteten Nutzen und Risiken. Während Jugendliche neugierig auf neue Techniken sind und diese auch als Statussymbol empfinden, sind Ältere eher an einem konkreten Nutzen interessiert.

Diesen Unterschied zwischen den Generationen gibt es nicht nur bei der Internetnutzung. Er wird als unterschiedliche Selbstwirksamkeit bezeichnet, d.h. als das Vertrauen, auftretende Probleme selbst bewältigen zu können. Wenn diese Annahme zutrifft, verwundert es nicht, dass ein üblicher PC- oder Tablet-Kurs in vielen Fällen nicht zu einer Nutzung führt. Hinzu kommt, dass insbesondere Menschen in höherem Alter sich nicht mehr zutrauen, die Ziele eines Kurses zu erreichen. Neben technischen Fertigkeiten und Kenntnissen müssen Angebote für ältere Menschen daher vor allem deren Selbstwirksamkeit stärken. Das gelingt allerdings nur, wenn auch ein inhaltliches Interesse an einer Internetnutzung geweckt werden kann. In unserem Feldversuch wurden zu Beginn die Erwartungen im Hinblick auf verschiedene Nutzenkategorien und nach der Erprobung die tatsächliche Nutzung erfragt.

Hohe Übereinstimmung gab es bei dem Nutzen der Unterstützung der Mobilität durch Fahrpläne und Karten, der Kontakte mit Familie und Freunden, bei der Gewinnung von Wissen und der Unterhaltung. Nur von wenigen ausprobiert wurde hingegen die Nutzung von Anwendungen, die Wege ersparen, wie Online-Einkaufen und Online-Banking.

Das Leihmodell umgeht nicht nur die Kosten für die Anschaffung eines Geräts. Es trägt auch den Lernerfordernissen älterer Menschen Rechnung, weil sie zwischen den Sprechstunden oder Trainings zu Hause wiederholen können, was sie dort erfahren haben. Einen wichtigen Beitrag haben zudem vorinstallierte Apps geleistet, die auf die erwarteten Nutzenaspekte hin ausgewählt wurden. Denn Neulinge zögern, Apps aus dem Internet herunterzuladen. Oft wissen Sie auch nicht, was für sie interessant sein könnte.

Nutzen und Nutzung des Internets von 300 Senioren zwischen 55 und 95 Jahren

Vertrauenswürdig

Hilfe beim Aufbau von Selbstvertrauen sollte von Einrichtungen und Personen kommen, denen die Betroffenen vertrauen. Daher wurden in dem Projekt Seniorentreffs und Seniorenwohneinrichtungen ausgewählt, die auch vielfältige andere Angebote für ihre Besucher bzw. Bewohner bieten und dieses Vertrauen genießen.

In diesen beiden Arten von Einrichtungen haben die Stiftung und Telefonica bereits seit 2012 jährlich positive Erfahrungen mit der betreuten Ausleihe machen können. Das Leihmodell kann für diese Einrichtungen in einem Programm „Senioreneinrichtungen ans Netz“ bundesweit ausgerollt werden. In einem Masterplan der Stiftung Digitale Chancen wird die Ausstattung von 30.000 Senioreneinrichtungen vorgeschlagen, die über drei Jahre 300.000 ältere Besucher erreichen können. Für die Anschaffung und Logistik der wechselnden Übergabe würde dies 14 Mio. Euro kosten, ein ergänzendes Trainthe- Trainer-Programm für ein Drittel der Betreuer rund 4 Mio. Euro.

In Seniorenwohneinrichtungen wohnen bundesweit ca. eine halbe Million Menschen. Wenn 10.000 Einrichtungen gewonnen werden und über drei Jahre 100.000 Bewohnern eine betreute Erfahrungsmöglichkeit bieten, würde dies etwa 3 Mio. für die Geräte, 1,5 Mio. für die Organisation der Ausleihe und 1,5 Mio. für ein Train-the-Trainer-Programm kosten.

Damit werden allerdings nicht alle älteren Menschen in ihren insgesamt sehr unterschiedlichen sozialen und räumlichen Lebensverhältnissen erreicht. Für eine umfassende digitale Inklusion oder Integration älterer Menschen und eine Überwindung der sehr unterschiedlichen Barrieren sind weitere Wege zu erproben. Dabei sollten zum einen Pflegheime und zum anderen die aufsuchende Nachbarschaftshilfe erprobt werden.

Die noch wenigen Umfragen zur Internetnutzung in Pflegeheimen oder Pflegestationen in Altenwohnheimen belegen, dass deren Patienten einen besonders hohen Nutzen aus digitalen Anwendungen gewinnen. Für Patienten mit eingeschränkter Mobilität oder psychischen oder kognitiven Einschränkungen ist das Internet nach einer Schweizer Studie ein „Fenster in die Außenwelt“. Um dies genauer zu erforschen, wäre ein Projekt mit der Ausleihe von Tablet-PCs an 300 der insgesamt 13.000 Pflegeheime und einem spezifischen Train-the- Trainer-Programm sinnvoll.

Senioren Tablet

Bindeglied: Auch Senioren wissen: Die Möglichkeiten des Internets machen das Leben leichter und interessanter. (Foto: VGstockstudio – Shutterstock)

Pilotprojekt

Für mobilitätseingeschränkte Menschen und solche im Höchstalter über 90 Jahre empfiehlt der runde Tisch „Aktives Altern – Übergänge gestalten“ des BMFSFJ „aufsuchende, auf ältere Menschen zugehende Angebote“. Dies wurde mit ehrenamtlichen Technik-Paten oder Technik-Botschaftern in kleinen Pilotprojekten versucht. Eine breite Umsetzung ist jedoch an der Rekrutierung ehrenamtlicher Helfer gescheitert.

Zielführender erscheint eine Einbettung in vorhandene Strukturen wie Pflegedienste, Anbieter von haushaltsnahen Dienstleistungen und die organisierte, auch ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe. Wenn die unterstützten älteren Menschen die Internetnutzung selbst nicht lernen können oder wollen, sollten die Helfer dies an ihrer Stelle für sie tun. So wie sie heute ein Formular einer Behörde für die Unterstützten ausfüllen oder für sie einkaufen gehen, können sie das dann auch online erledigen. Eine solche aufsuchende „digitale Assistenz“ erscheint ergänzend zu den Ansätzen zur Vermittlung digitaler Kompetenzen geboten. Vor allem in höherem Alter sollte ihnen zugestanden werden, nichts Neues mehr lernen zu wollen. Das darf aber kein Grund sein, deswegen von digitalen Dienstleistungen ausgeschlossen zu bleiben.

Herausforderung

Wenn wirklich alle die Chance bekommen sollen, den Nutzen der Digitalisierung für sich zu erfahren, dann stellt der zunehmend wachsende Anteil älterer Menschen eine besondere Herausforderung für die Erwachsenenbildung und auch für die sozialwissenschaftliche Technikforschung dar. Beide haben noch keinen hinreichenden Überblick über die unterschiedlichen Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten, in denen sich die 10 Millionen Offliner über 70 Jahre befinden und in den nächsten 20 Jahren befinden werden.

Die aktuelle Herausforderung besteht also darin, diese unterschiedlichen Ausgangssituationen mit ihren jeweiligen Barrieren zu systematisieren und empirisch zu erfassen und dann jeweils angemessene Maßnahmen zu entwickeln und zu erproben. Man kann das eine „responsive Digitalisierungspolitik“ nennen.

Wahrscheinlich ist dies ein Programm für mehr als eine Legislaturperiode. Aber wenn fünf Milliarden Euro für den Schulbereich investiert werden sollen, sind 40 bis 50 Millionen für ein entsprechendes Programm für die ältere Generation kein Grund, sich um diesen Teil der Bevölkerung nicht gleichermaßen intensiv zu kümmern.

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Der Autor

Prof. Dr. Herbert Kubicek

Prof. Dr. Herbert Kubicek

Foto: Privat

ist Wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Digitale Chancen und Senior Researcher am Institut für Informationsmanagement Bremen (ifib) der Uni Bremen.

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