Eine am Lorenz-von-Stein-Institut durchgeführte Analyse im Rahmen eines vom DIVSI geförderten Projektes konnte die Existenz einer digitalen Dimension der Grundrechte zeigen. Die Etablierung einer (neuen) Kategorie der digitalen Dimension fügt sich in die Grundrechtsdogmatik ein. Sie ist nicht dem Vorwurf ausgesetzt, man habe dies in der Vergangenheit für vergleichbare Entwicklungen nicht getan. Mit dem Internet steht nämlich erstmals eine gesellschaftliche Errungenschaft bereit, die in der Lage ist, nahezu das gesamte menschliche – und grundrechtlich erfasste – Verhalten abzubilden.
Neben aktiven Handlungsweisen, von denen exemplarisch nur Online-Predigt und Online-Seelsorge im Rahmen von Art. 4 Abs. 1 GG, reine Online-Versammlungen und -Vereinigungen sowie die Nutzung des Internets im Kontext klassischer Demonstrationen oder Vereine und ihr Schutz über Art. 8 und Art. 9 GG genannt werden sollen, bietet der Grundrechtskatalog den ergänzend notwendigen Infrastrukturschutz. Digitale Grundrechte sind auf digitale Infrastrukturen ange- wiesen – das Fernmeldegeheimnis sowie das Grundrecht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme stellen Vertraulichkeit und Sicherheit her. Die Verfügbarkeit für jedermann ist im Rahmen einer E-Daseinsvorsorge ebenfalls staatliche Aufgabe.
Digitale Infrastrukturen übernehmen zunehmend die Rolle klassischer Infrastrukturen, sodass die Erweiterung des Grundrechtsschutzes konsequent ist. So wie in der Vergangenheit Art. 13 GG (Schutz der Wohnung) eine räumliche Rückzugsmöglichkeit sicherte, bedarf es digitaler Rückzugsräume. Viele analoge wie auch digitale Grundrechte weisen eine räumliche Dimension auf. Für analoge Handlungsweisen steht – trotz Privatisierungstendenzen – offensichtlich hinreichend öffentlicher Raum zur Verfügung. Im Internet bewegen sich die Grundrechtsträger aber immer auf „privatem Grund“. Nur solange ausreichend (nichtkommerzialisierte) Ausweichmöglichkeiten existieren, dürften staatliche Maßnahmen nicht gefordert sein.
Komplettiert wird der Grundrechtsschutz durch die Absicherung passiver Komponenten, nämlich ein Online-Persönlichkeitsrecht. Je mehr sich persönlichkeitsrelevantes Handeln im Internet manifestiert, desto mehr entsteht eine Kategorie der Online-Persönlichkeit, die eng mit der analogen Persönlichkeit verbunden ist, aufgrund der anderweitigen Entstehungsvoraussetzungen und Bedrohungen aber eines eigenständigen Grundrechtsschutzes bedarf. Die Entwicklung steht hier erst am Anfang: Die Bewertung der Rolle von Suchmaschinen, die digitale Persönlichkeiten für Dritte sichtbar werden lassen, ist Gegenstand der Rechtsprechung.
Gibt es eine digitale Dimension der Grundrechte, und „ist das tauglich für das digitale Zeitalter“?
Die Analyse konnte zeigen, dass sich nicht nur zahlreiche (persönlichkeitsrelevante) Handlungsweisen ins Internet verlagern und unter Rückgriff auf informationstechnische Systeme vollziehen, sondern auch, dass diese Aktivitäten den gleichen Schutz beanspruchen wie analoge Verhaltensweisen – wie der klassische Grundrechtsgebrauch. Gleichwohl ist der zweite Teil der Frage nicht zwingend ebenfalls positiv zu beantworten. Das Grundgesetz ist als Antwort auf eine bestimmte historische Situation konzipiert worden. Daher steht die klassische Abwehrdimension im Vordergrund. Diese ist es aber nicht, die Antworten auf die Fehlentwicklungen im Internet geben kann. Es sind vielmehr staatliche Schutzpflichten und die (mittelbare) Drittwirkung der Grundrechte, die es zu aktivieren gilt. Die Beeinträchtigung durch private Dritte (oder andere Staaten) wird bei den digitalen Grundrechten zur Regel.
Welchen Mehrwert bietet vor diesem Hintergrund die Rückführung digitaler Handlungsweisen auf die grundrechtlichen Schutzbereiche? Es dürfte weniger die unmittelbare Wirkung sein, die gegen über staatlichen Maßnahmen geltend gemacht werden kann und einen rechtfertigenden Grund verlangt.Stattdessenkann die Vergewisserung darüber, dass digitale Handlungsweisen grundrechtlichen Schutz genießen, aktuellen Debatten neue Impulse geben.
Technische wie gesellschaftliche Innovationen stellen sich immer auch als Herausforderung für eine Rechtsordnung dar. Vor allem Gesetzgebung und Verwaltung sind zur Bewältigung berufen – auch wenn die Rechtsprechung mangels konkreter gesetzlicher Vorgaben derzeit eine Vorreiterrolle einnimmt und durch zur Entscheidung gebrachte Sachverhalte gezwungen ist, sachgerechte Lösungen unter Rückgriff auf eine Auslegung eines nicht für das Internet gemachten Rechts zu entwickeln. Ein solcher Zwang besteht für die Gesetzgebung nicht – gleichwohl dürfte es kaum mehr möglich sein, sich dieser gesellschaftlichen Herausforderung nicht anzunehmen. Gerade weil die unmittelbare abwehrrechtliche Komponente der Grundrechte keine zeitgemäße Antwort auf die drohende Beeinträchtigung auch elementarer Grundrechte im digitalen Raum gibt, ist es die Verpflichtung der Gesetzgebung, eine grundrechtsadäquate Ordnung unter Privaten herzustellen.
Hier setzt die digitale Dimension der Grundrechte an. Sie kann „Leitplanken“ definieren. Der Gesetzgeber ist berufen, durch Recht einen schonenden Ausgleich zwischen kollidierenden Rechtspositionen zu formulieren. Auch die (mittelbare) Drittwirkung, konstruiert über Einbruchstellen im einfachen Recht, stellt eine Form des Ausgleichs dar. In einem tripolaren Verhältnis kommt dem Staat die Rolle eines „Moderators“ zu, der allen Rechten zu optimaler Durchsetzung verhelfen muss.
Der Blick auf die grundrechtlichen Schutzbereiche und konkrete Konfliktfälle – sowie deren Bewältigung durch die Rechtsprechung – hilft dabei, tatsächlich einen solchen Ausgleich anzustreben, während in der öffentlichen Debatte oder auf Grundlage geltenden Rechts ohne Rückbesinnung auf die grundrechtlichen Positionen oft die Überbetonung der einen oder anderen Position droht. Dies zeigen die Debatten zum Datenschutz, wo zum Teil vernachlässigt wird, dass neben dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch Unternehmen (selbst „amerikanische Großkonzerne“) Träger von Grundrechten sind. Die Einräumung eines grundsätzlichen Vorrangs durch Gesetzgebung oder Rechtsprechung ist im Verhältnis von Grundrechtsträgern und ihren Rechtspositionen untereinander kritisch zu bewerten. Bei aller Zuversicht, dass der Gesetzgeber den Schutz der Grundrechte vor privaten Beeinträchtigungen sichert, bleibt gleichwohl die begrenzte Steuerungskraft eines Nationalstaats im Hinblick auf globale Sachverhalte das wohl dringlichste Problem in diesem Zusammenhang.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass unter der grundrechtlichen Perspektive – trotz eines fast lückenlosen Schutzes digitaler Handlungsweisen – Anpassungsbedarf auszumachen ist. Exemplarisch ist insofern die Einordnung der verschiedenen Kommunikationsvorgänge im Internet.
Die Erfassung – sowohl der Individual- als auch der Massenkommunikation
– lediglich über die „Auffanggrundrechte“ der Rundfunkfreiheit und des Fernmeldegeheimnisses erscheint der Bedeutung des Internets nicht angemessen und dogmatisch fragwürdig. Grundrechtlicher Schutz soll allgemein verständlich sein – warum die reine Online-Zeitung nicht „Presse“, sondern Rundfunk ist und wieso eine E-Mail oder ein Online-Speicher dem Fernmeldegeheimnis unterliegen sollen, ist nicht auf den ersten Blick überzeugend. Klärungsbedürftig erscheint zudem die Abgrenzung von laufender Kommunikation und abgeschlossenen Kommunikationsvorgängen sowie zwischen dem Schutz des Gegenstands der Kommunikation (bspw. personenbezogenen Daten) und dem Schutz des Kommunikationsvorgangs und von Kommunikationsinfrastrukturen.