Wie ein Demiurg, ein Gott, der das Universum nicht erschafft, sondern gestaltet, ist die Menschheit dabei, einen ganzen Planeten zu verändern und umzurüsten, damit er zu ihren Bedürfnissen, Wünschen und Erwartungen passt und sie erfüllt.“ Dieses Wort des italienischen Philosophen Luciano Floridi erklärt uns bündig, dass sich der Mensch aufgemacht hat, einer „Datenreligion“ (Harari) zu huldigen. Sie soll den Menschen – jedenfalls eine Elite – kraft seiner technischen Möglichkeiten an die Stelle Gottes setzen. Denn nachdem die Menschheit weltweit Armut, Seuchen und Kriege dezimiert hat, meinen wir heute, mit der Verbindung von Biotechnologie und Computerwissenschaft ein Recht auf Glück zu schaffen. Der Schlüssel zum Glück, so Harari, gehört zur Drei-Punkte-Agenda des 21. Jahrhunderts, noch ergänzt um die Überwindung des Todes und das Streben nach der Göttlichkeit. Je nach dem Auge des Betrachters beklemmend oder verheißungsvoll steht deshalb im Horizont der menschlichen Evolution für morgen der Titel des neuen Buches von Yuval Noah Harari, nicht mehr in Frageform gegossen, sondern als Feststellung zementiert: Homo Deus.
Dabei unternimmt Sapiens nicht mehr als das, was er in Tausenden Jahren seiner Herrschaft über die Erde schon immer erstrebte: zu sein wie Gott. Dass der Mensch sein will „wie Gott“, ist indessen nach abendländischer Tradition Frevel – Goethes „Faust“ ist hier das Lehrstück – und wird nur durch einen Pakt mit dem Teufel besiegelt. Schon die alttestamentliche Eva ließ sich auf die Schlange ein, die versprach, die Menschen würden beim Biss in den Apfel keineswegs sterben, sondern sein wie Gott und wissen (Genesis). Harari legt uns nahe, dass es heute, nach Ablauf einiger Tausend Jahre nach Adam und Eva, endlich so weit sein könnte.
Heute scheint es, als stünde der Homo sapiens kurz vor dem Ziel, sich kraft der ihm jetzt offen stehenden technischen Möglichkeiten über sich selbst zu erheben. An die Stelle einer menschlichen, aber auch endlichen Zukunft tritt, diese Vergangenheit hinter sich lassend, eine „göttliche Zukunft“ (Harari) – und damit eine nie mehr endende Zukunft –, einmündend in ein von Menschen gesetztes „Recht auf Glück“.
Die „Datenreligion“ (Harari) – nur noch dem wissenschaftlichen Fortschritt und dem Gewinnstreben verpflichtet – tritt in ihr Recht. Die von der Biowissenschaft entwickelten Einsichten geben uns die Nachricht, dass der Mensch in seinem Organismus nur noch ein biochemischer Algorithmus ist, deterministisch, berechenbar, steuerbar, manipulierbar. Die Folge: Sapiens ist kein freies Wesen, kein Individuum, kein unteilbarer Dualismus aus Körper und unsterblicher Seele, sondern ist nur ein Haufen Daten und ein Aggregat aus definierten Handlungsabläufen, die Umweltwahrnehmungen verarbeiten. Der Mathematiker John von Neumann hält neben der Mitarbeit an der Atombombe kurz vor seinem Tod im Jahr 1957 seine Gedanken in „Die Rechenmaschine und das Gehirn“ schriftlich fest und schreibt, dass der Mensch nicht sehr viel anders als ein Computer funktioniere. Der Sapiens wird also reduziert auf eine programmierbare Informationsverarbeitungsmaschine, wie schon der Zeitgenosse Neumanns, der Mathematiker Norbert Wiener, alle Lebewesen bezeichnete. So hat sich inzwischen in vielen Forschungsdisziplinen die Ansicht durchgesetzt, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Tieren und dem Menschen: In allen Fällen liegen diesen Organismen nur entzifferbare Algorithmen zugrunde; sie unterscheiden sich nur in ihrer Komplexität (Harari).
Ist die menschliche Entwicklung zum Homo Deus also zwingend, weil die Organismen seiner Programmierer und deren Manager auf genau jenen Fortschritt zur Göttlichkeit determiniert sind? Oder wird der Angriff auf die Freiheit des Sapiens „spätestens in Zukunft als ideologisch durchschaut“ werden (Gabriel)? Denn dass Sapiens seine Entwicklung bis hierher ins digitale Zeitalter überhaupt nehmen konnte, hat er nur seiner Freiheit zu verdanken. Zwar ist Sapiens Teil der Natur, den Naturgesetzen dennoch nicht unterworfen. Er kann sie infrage stellen, sie erforschen, überwinden und sogar übersteigen. Kulturschaffung ist nichts anderes als das. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Freiheit des Menschen, die Dinge eben nicht so hinzunehmen, wie sie sind, eine Freiheit, die in der gesellschaftlichen Strömung des Humanismus gipfelt.
Paradox ist, dass Sapiens im 21. Jahrhundert alle technologischen Werkzeuge geschaffen hat, sich selbst zu entmachten und seiner Freiheit zu berauben. „Homo sapiens verliert die Kontrolle“ (Harari) und wird von einem göttlichen Menschen, Homo Deus, verdrängt, der ihn nicht anders behandeln wird als Sapiens seine tierischen Mitgeschöpfe seit der Agrarrevolution. Evolution und natürliche Auslese? So lange lässt Homo Deus nicht mehr auf sich warten, denn die Weiterentwicklung auf die nächsthöhere Stufe des Menschseins lässt sich durch Technologie gehörig abkürzen.
Daten, Information, Wissen – sie sind der Kern des Dataismus, jener neuen Religion, mit der sich Sapiens selbst abschaffen soll. Denn der einzelne Mensch erschließt durch die Massendatenanalyse, Big Data, sein Wesen, sein Innerstes den im Silicon Valley zentralisierten Datenverarbeitungssystemen. Diese sind ja – das ist Gemeinplatz – dem menschlichen Hirn mittlerweile unendlich in Analytik und Prognose überlegen. So werden aber auch ganze Gesellschaften – Bienenvölker, Bakterienkolonien, Dörfer und Städte mit ihren höchst unterschiedlichen Menschen – mithilfe von Maschinen klassifizierbar, berechenbar, steuer- und lenkbar auf ein von Menschenhand angestrebtes, angeblich höheres Ziel hin. Das ist, wie Harari uns sagt, nicht düstere Zukunftsvision, sondern „gängige wissenschaftliche Lehre über alle Disziplinen hinweg, die unsere Welt gerade bis zur Unkenntlichkeit verändert“.
Diese ist dadurch geprägt, dass die global operierenden Datenverarbeitungssysteme „allwissend und allmächtig“ sind. Denn ermöglicht wird der Aufstieg des Homo Deus nur, weil ihm das 21. Jahrhundert eine nie da gewesene Massendatenbasis und Rechenkapazität verschafft. Massendaten werden durch die Massenüberwachung erhoben, früher mit dem Smartphone und dem Laptop, heute zunehmend durch das Internet of Everything. Niemand mehr soll sich Big Data entziehen dürfen, auch nicht die Kritiker und Häretiker des Dataismus. Wer es dennoch wagt, wird sterben müssen, mindestens wird sein Leben nicht mehr richtig funktionieren. Die allmächtigen Datenverarbeitungssysteme sind dann eben auch der Urgrund dafür, dass sie für den Menschen „zum Quell allen Sinns“ (Harari) werden: Ein verlorenes Smartphone bewirkt sogleich Sinnleere, jedenfalls bodenlose Langeweile.
Das aber heißt auch, dass menschliche Erfahrungen und Gefühle nicht mehr für sich zählen, weder als „Wert“ noch als Ausweis einer unverwechselbaren Persönlichkeit. Sie alle – Geist, Seele und Ichbewusstsein – werden nur noch als komplexe Datenmuster abgebildet: Das bislang geläufige und in der Gesellschaft verankerte humanistische und „homozentrische“ Weltbild – der Mensch als Krone der Schöpfung oder, wie es das Grundgesetz sagt, mit einem Anspruch auf eine unantastbare Würde ausgestattet – mutiert zu einem „datenzentrischen Weltbild“.
Die Herrschaft in diesem System üben – ohne demokratische Legitimation – die Unternehmen der Big Data aus. Maschinen mit künstlicher Intelligenz, immer mehr selbst lernend, stehen Pate. Ihr Wissen ist Macht, wohl auch schon Allmacht. Und fast alle Bürger fügen sich widerstandslos, weil sie scheinbar Nutzen davon haben, dass man sie optimiert. Das Interesse an den modernen Manipulationsmöglichkeiten und dem damit einhergehenden Verlust an Freiheit und Würde geht gegen null. Das Internet of Everything, aber auch Cyborgs – die Verbindung organischer Körper mit Maschinen – beherrschen unser Leben, aber auch uns selbst mehr und mehr. Die Verknüpfung riesiger Datenströme ist hierfür Ursache und nicht erkannte Realität. Es kann durchaus sein, dass eines baldigen Tages die Fähigkeiten solcher Cyborgs die menschlichen Möglichkeiten in ihrer begrenzten Effizienz um ein Vielfaches übertreffen.
Das „Ich als USB-Stick“ (Gabriel) ist dann die logische Folge. Das ist vor allem deswegen auch möglich geworden, weil die Biologie – angestiftet durch rein mathematisches Denken – uns einbläut, dass wir kein „Ich“ mehr haben, keine Seele und auch kein Bewusstsein unseres Selbst. Denn wenn – biochemisch gesprochen – nur noch Hirn, messbar, steuerbar, vor allem aber auch verknüpft mit Maschinen (Cyborgs, schon jetzt: wearables), uns den Weg in die Zukunft zeigt, dann ist dies nicht ein Weg zu uns selbst, sondern er führt in eine uns von Big Data gewiesene Zukunft – zu einem fremdbestimmten Glück. Der Philosoph Markus Gabriel gibt uns allerdings den Faden der Ariadne in die Hand, um aus diesem Labyrinth herauszufinden – „Ich ist nicht Gehirn“ heißt sein 2015 erschienenes Werk. Denn der „Dataismus“ (Harari) hat für viele Geisteswissenschaftler eine Menge Ungereimtheiten, angefangen bei der strittigen These, Sapiens sei deterministisch, über die Kompatibilitätstheorie, wonach sich Determinismus und Freiheit des Menschen gar nicht widersprechen, bis hin zur Unmenschlichkeit der Selbstvergöttlichung, der „Verrohung nach oben“ (Gabriel), die nichts weiter ist als die Allmachtsfantasie „einer alles verschlingenden digitalen Revolution, die in den Händen der Götter des Silicon Valley liegt“ (Gabriel).
Doch der Drang zum Glück, zu Unsterblichkeit und Gottähnlichkeit, den Wissenschaft und „Datenreligion“ (Harari) zum Dogma erhoben haben, lehrt uns auch einen neuen Humanismus. Sie nennt ihn „Transhumanismus“ (Sorgner). Ihm geht es um die genetische Optimierung des Menschen, um das pharmakologisch geprägte – ständige – Enhancement seiner körperlichen (Seele gibt es nicht mehr) Gesundheit (Pillenkonsum/Drogen) und um die allgemeine Verbesserung der Funktionstüchtigkeit des Menschen durch Cyborgs, soweit Roboter dies gestatten und ihm die Arbeitsplätze nicht rauben. Der Mensch, welcher der Religion abgeschworen hat, seitdem Nietzsche „Gott ist tot“ als Motto für Glück- und Machtstreben ausgegeben hat, findet offenbar an alledem äußersten Gefallen.
Dieser Gefahr können und müssen wir – das ist die einzige Chance – das abendländisch-christliche Welt- und Menschenbild (Grundgesetz und EU-Charta) entgegensetzen. Wir dürfen nicht nachlassen, den unantastbaren Wert der Würde der menschlichen Person und ihren Anspruch auf Freiheit ins Bewusstsein der Gesellschaft zu heben. Es ist eine personale Würde, die darin besteht, dass der Einzelne nie zum „Objekt“ einer ihm fremden Macht (Dürig) – abseits seiner Selbstbestimmung – werden darf. Und sie schließt unsere Freiheit ein, dem Glauben an die „Datenreligion“ (Harari) ein entschlossenes „Nein“ entgegenzusetzen, auch wissend, dass wissenschaftliche Vernunft und christlicher Glaube keinen Gegensatzbilden (Ratzinger).