Kenneth Arrows Satz der Sozialwahltheorie – auch Arrow-Paradoxon genannt – ist das, was man auch als Killer-App für das wichtigste demokratische Verfahren, die Wahlen, bezeichnen könnte. Das Theorem, das von Arrow in seiner Dissertation „Social Choice and Individual Values“ im Jahr 1951 veröffentlicht wurde, besagt, dass sich keine vollständige und transitive „gesellschaftliche Rangordnung“ aus einer beliebigen Menge an individuellen Präferenzen (unter Einhaltung bestimmter – aus ethischen oder methodischen Gründen naheliegender – Bedingungen) bilden lässt. Verkürzt gesagt: Es existiert kein Wahlverfahren, das alle Bedingungen der Universalität, das schwache Pareto-Prinzip, Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen und Nichtdiktatur, gleichzeitig erfüllt. Schlimmer noch: Das Wahlverfahren, das die meisten der o.g. Voraussetzungen für eine gerechte und fundierte Wahl erfüllt, heißt Diktatur.
Wenn die Bürger nicht mehr an ihrem wichtigsten Verfahren, dem Gang zur Wahlurne, teilnehmen wollen, dann hat Demokratie ein ernsthaftes Problem, kritisiert David Van Reybrouck in „Gegen Wahlen“ und fragt: „Ist das Parlament dann überhaupt noch repräsentativ?“, oder müsste ein Viertel der Sitze leer bleiben, wenn 26 Prozent der Wahlberechtigten nicht wählen gehen? In den Sechzigern, so Van Reybrouck, herrschte noch Apathie und Vertrauen: „Damals konnte eine einfache Bäuerin politisch vollkommen apathisch sein und der Politik sogleich vollkommen vertrauen.“ Heute dagegen heißt es: Begeisterung und Misstrauen. „Demokratiemüdigkeitssyndrom“ nennt Van Reybrouck das Phänomen, das sich u.a. durch Wahlverweigerung oder die sogenannte elektorale Volatilität manifestiert. Hinzu kommt:
„Diejenigen, die zur Wahl gehen, mögen die Legitimität des Verfahrens vielleicht noch anerkennen, zeigen aber immer weniger Loyalität gegenüber ein und derselben Partei.“
Die Phänomene sind keinesfalls neu: Wahlabstinenz, Politikverdrossenheit, Apathie und schwindende politische Partizipation – man bescheinigt den modernen Demokratien eine Menge Schwächen. Vor wenigen Jahren schien das Mittel gegen die Probleme endlich gefunden zu sein: das Internet. Von den Enthusiasten zur „Technologie der Freiheit“ (Ithiel de Sola Pool) und zum Revival der „athenischen Demokratie“ (Al Gore) ausgerufen. Fortdauernde, ja messianische Hoffnung, die jeweils nächste Technologie könnte die Probleme lösen, die von der aktuellen Technologie geschaffen wurden, scheint fest in der bürgerlichen Gesellschaft verankert zu sein, schrieb 1994 der Sozialwissenschaftler Howard Rheingold. So verwundert es wenig, dass das Internet als ein politisch besonders attraktives Medium eingestuft wurde, da es nicht nur eine Fülle von Informationen vorhält, sondern auch als Ort politischer Selbstorganisation und globaler Verständigung Bürger mit gleichlautenden Zielen verbindet und ihre politische Durchsetzungskraft bündelt.
Auf lange Sicht hätte das Internet sogar direkte Bürgerbeteiligung und Entscheidungen in Online-Referenden ermöglichen und politische Vertreter sowie Intermediäre ganz überflüssig machen können. Mittelfristig wollte man sich auch damit begnügen, seine Stärken zur Verbesserung der Partizipation und politischen Kommunikation zu nutzen: die Interaktion zwischen den Menschen verbessern, die Mitsprache bei politischen Entscheidungen und den politischen Diskurs erleichtern, den informierten Bürger herbeischwören.
Die ersten Erfolge bestätigte die in die neue Technologie gesetzte Hoffnung: In den US-Vorwahlen der Demokraten in Arizona im Jahr 2000, in denen ein wesentlicher Anteil der Stimmen erstmalig per Internet abgegeben wurde, zeigte sich eine Steigerung der Wahlbeteiligung gegenüber 1996 von immerhin 676 Prozent. Das veranlasste die Koalitionsfraktionen „vor dem Hintergrund der oft diagnostizierten Politik- und Parteiverdrossenheit, dem abnehmenden Vertrauen in die staatlichen Institutionen, der angesichts der Komplexität zunehmenden Undurchschaubarkeit politischer Entscheidungsstrukturen und -prozesse und der immer weiter abnehmenden Wahlbeteiligung“ im Jahre 2002 dazu, in einer Petition an den Deutschen Bundestag die drängende Frage zu stellen, wie diesen Beteiligungsdefiziten begegnet werden könnte. Die Antwort lieferte das Internet als „wichtige Ergänzung traditioneller Wege politischer Teilhabe in der repräsentativen Demokratie“, um es mit den Worten der Initiative D21 zu formulieren, die bürgerliches Engagement insgesamt schneller und flexibler – und so kompatibel mit den neuen Lebens- und Freizeitgewohnheiten – machen sollte. Der Weg zu einer Wahl-App schien offen.
Das Jahr der 19. Wahl zum Deutschen Bundestag. Die neue Technologie hat die überkommenen Probleme nicht gelöst. Neue Intermediäre kamen hinzu: soziale Medien und Internet-Konzerne. Die „Echokammer“ soll bei Facebook die Wähler vor anderslautenden politischen Meinungen und Einstellungen abschirmen, und Google ist zweitwichtigste Quelle für politische Meinungsbildung. Dabei ist die Bezeichnung „sozial“ irreführend: Facebook, Twitter oder Instagram sind genauso kommerzielle Medien wie RTL oder Fox – mit dem Unterschied, dass der Medienkonsument nicht zuschaut, sondern selbst schreibt und teilt. Die neue Technologie verschafft dem Bürger zwar neue Mündigkeit, doch zugleich verwandelt sie die Wahlen in eine permanente Kampagne – eine politische Daily Soap mit kostenlosen Schauspielern.
Vergebens war das Experiment dennoch nicht: Es wurden Lektionen gelernt und Risiken erkannt.
Die Einführung elektronischer Wahlen – ob als E-Voting oder Wahlmaschinen – machte die Abstimmungen effizienter und half Kosten sparen. Dennoch sind Wahlautomaten nicht manipulationsfrei und vor der Sabotage nicht sicher, stellte man bei den letzten US-Präsidentschaftswahlen fest. Sie könnten von ausländischen Geheimdiensten angegriffen und beeinflusst werden – auch wenn sie nicht über das Internet verbunden sind. Beweise für derartige Aktivitäten wurden zwar nicht gefunden – dennoch verkündete die niederländische Regierung, auf die automatisierte Wahlzettelauszählung zu verzichten. Ob fremde oder eigene Geheimdienste ihre Hände im Spiel haben: Experten warnen seit Jahren vor den Risiken, Wahlen einer unausgereiften Technologie zu überlassen.
Nicht technische Raffinesse und Sicherheit haben sich als wesentliche Herausforderungen für die elektronischen Wahlen herausgestellt, sondern das Vertrauen der Wähler in das Wahlverfahren. Und das hängt nicht unwesentlich vom Vertrauen in das politische System, seine Institutionen und Repräsentanten ab. In einer Zeit, in der das Telefon, das Auto, sogar der Kühlschrank in das private Leben ihrer Nutzer eindringen, klingt der Leitsatz von E-Voting: „Behandle Wähler wie Kunden“, wie eine Drohung. Andererseits zeigen Experimente, wie die Abstimmungsverfahren des Virtuellen Ortsvereins (VOV), dass auch (technisch) relativ einfache Wahlsysteme Zuspruch und Akzeptanz der Nutzer finden, wenn das Verfahren und die ausrichtende Institution das Vertrauen der Wähler genießen.
Trotz zunehmender Digitalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sollten Wahlen – wie auch Justiz oder Verteidigung – eine Domäne des Staates bleiben. Die Administration könnte dennoch von den Erfahrungen der Wirtschaft profitieren. Und ähnlich wie bei einer E-Business-App stehen die Generierung von unverfälschten und zuverlässigen Transaktionen und Rationalisierung der Wahlorganisation im Fokus. Wie im elektronischen Geschäftsverkehr sollten fortgeschrittene Sicherheitsmaßnahmen, von PKI mit PIN oder Passwort bis hin zu Biometrie, die Risiken von Betrug und Manipulation bei den elektronischen Wahlen minimieren (der elektronische Personalausweis würde diese Funktion vermutlich perfekt erfüllen). Doch die eindeutige Identifizierung und Authentifizierung der Wähler, die Wahlbetrug und Mehrstimmen verhindern sollten, heben zugleich seine Anonymität auf. Womit die Wahlen zwar (bis zu einem gewissen Grad) sicher wären, der Wähler aber nicht. Alleine deswegen sollte zwischen der Sicherheit des Wahlprozesses und der Sicherheit der Wähler im Sinne des Schutzes ihrer Anonymität unterschieden werden. Auch wenn beide Schutzziele mit denselben Maßnahmen, wie Kryptografie, gewährleistet werden können.
„Werden E-Voting-Verfahren in der Zukunft weiterhin als politische ‚E-Business‘-Anwendungen konzipiert, könnte dies kontraproduktive Folgen für ihre Akzeptanz haben“, warnten im Jahr 2001 Leggewie und Bieber in APuZ. Der Wunsch des Staates nach sicheren und manipulationsfreien Wahlen einerseits – und das Recht der Bürger, ihre Wahlentscheidung geheim zu halten, erschweren die technische Umsetzung. Elektronische Verfahren müssen nicht nur den Anforderungen an allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen genügen. Die Wahlprozedur muss transparent und jederzeit von der Öffentlichkeit kontrollierbar und überprüfbar sein. Darüber hinaus muss das Wahlsystem Integrität, Verfügbarkeit, Verlässlichkeit und Verantwortbarkeit aufweisen. Summa summarum sollte das Wahlsystem also Eigenschaften wie Akkuratesse, Privatheit (bzw. Anonymität), Robustheit, Verifizierbarkeit, Fairness, Abstreitbarkeit, Eindeutigkeit und Legitimität haben.
Das sind wahrlich ein paar mehr als die vier Bedingungen, die den Nobelpreisträger Arrow zur Formulierung seines Paradoxons verleitet haben. Vertrauen, schrieb er, sei der Klebstoff sozialer Systeme – und ein knappes Gut. „If you have to buy it, you already have some doubts about what you have bought.”