Wären PRISM, NSA und der gesamte Riesen-Skandal nur ein zeitaktueller TV-Film aus der Welt des Internet und der Geheimdienste, so würde ich beim jetzigen Sachstand abschalten. Warum? Ich mag Science Fiction nicht. „Jetzt übertreiben sie aber“, würde ich sagen. „Da ist die Phantasie mit den Machern durchgegangen. So was ist im realen Leben undenkbar.“
Leider ist die schlimme Schnüffel-Affäre kein Film. Vielmehr ein Live-Drama mit ungewissem Ausgang und uns allen als hilflosen Statisten. Eine tickende Zeitbombe, die längst weit größere Dimensionen als ein reines Ausspähen erreicht hat. Ich sehe unser ureigenes Persönlichkeitsrecht bedroht.
Selten zuvor haben deutsche Politiker in einer Krisensituation – und genau davon müssen wir reden – ein derart schwaches Bild abgegeben. Und es wäre unklug, bei diesem erschreckenden Vorgang auf ein Vergessen in der Öffentlichkeit zu hoffen.
Rufen wir uns die groteske Situation noch einmal ins Gedächtnis:
Da empfiehlt der deutsche Innenminister uns Bürgern, selbst mehr für den Schutz unserer Daten zu tun. Da Ausspäh-Technik nun einmal existiere, müssten Verschlüsselungstechnik oder Virenschutz größere Aufmerksamkeit erhalten.
Tage später wird bekannt, dass die Geheimdienste über solche Techniken gelangweilt gähnen. Dass sie längst Datenübertragungen im Internet mitlesen können, selbst wenn mit modernster Technik verschlüsselt wurde. Denn die NSA hat einschlägige Softwarefirmen womit und wodurch auch immer dazu gebracht, für sie Hintertüren einzubauen. Das bedeutet im Klartext: Auch die bislang als sicher geltenden https-Verbindungen beispielsweise beim Online-Banking können geknackt werden.
Nun mag es Menschen geben, die Geheimdiensten das Schnüffeln erlauben möchten, weil dieses so erworbene Wissen zur Vorbeugung und Abwehr terroristischer Angriffe nützlich sein kann. Ist diesen Zeitgenossen eigentlich klar, dass es durchaus auch kriminelle Elemente gibt, die solche Hintertüren öffnen können, um verbrecherische Aktivitäten durchzuführen?
Ist es nicht beschämend für die gesamte deutsche Politik, wenn bei einem solchen Web-Tsunami sich der Präsident unseres Landes mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten treffen muss, weil Regierung und Opposition überfordert sind, die Bürger umfassend aufzuklären – über die wahren Ausmaße des entstandenen Schadens und über Wege, die jetzt eingeschlagen werden müssten, um den Schaden zu begrenzen.
Joachim Gauck war Schirmherr des DIVSI, bevor er zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Er hat in mehreren Interviews geäußert, dass ihn die NSA-Affäre beunruhige. Es unterstreicht sein tiefes, geradliniges Streben nach Bewahrung und Ausbau der Freiheit und unser aller Freiheitsrechte, wenn er im Interesse seiner eigenen Information den eher ungewöhnlichen Weg über den Datenschutzbeauftragten wählt. Womöglich hat er sich von dem umfassendere sachlich-neutrale Aufklärung versprochen, als von offizieller Politikseite. Denn Peter Schaar, immerhin mit der Erfahrung von gut zehn Jahren auf der Position des obersten Datenschützers, hat mehrfach Kritik am Verhalten der politisch Verantwortlichen geäußert und ihnen Verschleierung vorgeworfen.
Beide sprechen mir mehr aus dem Herzen als die Phalanx der Regierungsvertreter, für die alle Vorwürfe in diesem einmaligen Skandal ausgeräumt sind. Unabhängig davon, welche Mehrheits- und Machtverhältnisse die anstehende Bundestagswahl mit sich bringt – der Skandal um NSA und den britischen GCHQ-Dienst muss als unerledigte Arbeit übernommen werden. Denn ausgeräumt ist gar nichts.
Die Internet-Nutzer haben ein Recht auf Aufklärung, welche Verschlüsselungstechniken sie überhaupt noch sinnvoll nutzen können. Wenn die Politik keine vor Ausspähung sichere Software empfehlen kann, wächst die Gefahr einer tiefgreifenden Vertrauenskrise bei der Nutzung des Internets.
Anzeichen hierfür hat eine repräsentative DIVSI-Umfrage, realisiert durch das renommierte SINUS-Institut, bereits ergeben. Denn das Sicherheitsgefühl der Deutschen im Internet hat sich durch den Abhörskandal verschlechtert. 39 % der Befragten fühlen sich demnach bei ihren Aktivitäten unsicherer als zuvor.
Auch die Wirtschaft müsste daran interessiert sein, dass alle Fakten lückenlos auf den Tisch kommen. Denn eine Vertrauenskrise würde besonders jene Unternehmen empfindlich treffen, deren Geschäftsprozesse maßgeblich auf dem Internet basieren. Es ist für mich höchst verwunderlich, dass die Wirtschaft angesichts nicht auszuschließender Industriespionage sich derart ruhig verhält.
Dabei sollten in den Chefetagen die Alarmglocken schrillen. Zum Zeitpunkt unserer Befragung im Juni hatte bereits fast jeder Fünfte (18 Prozent) sein Verhalten bei der Nutzung des Internets geändert. Vor allem im Umgang mit Online-Diensten wollte man sich künftig vorsichtiger verhalten. Diese Werte liegen heute mit Sicherheit bei weitem höher. Es ist an der Zeit, dass die staatlichen Institutionen diese Sorgen der Bürger endlich ernst nehmen und reagieren.
Oder ist der Staat hier mittlerweile schlicht überfordert? Hat er vielleicht die falsche Arbeitsgrundlage? Anders gefragt: Taugt unser Grundgesetz überhaupt noch für das digitale Zeitalter? Das Lorenz-vom-Stein-Institut überprüft im DIVSI-Auftrag gerade das Fundament unserer Demokratie unter diesem Gesichtspunkt.
Und was kann der einzelne Internet-Nutzer machen? Wir Mitspieler des digitalen Zeitalters sollten trotz des weiter schwelenden Skandals das Lamentieren beenden und nach vorn blicken: Wie lassen sich bessere Schutzwälle errichten?
Ein erster Schritt wäre für mich, in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich den überstrapazierten Begriff „Datenschutz“ zu bemühen. Das Ziel muss höher gesteckt werden: Wir brauchen eine Stärkung unserer Freiheitsrechte.
Und ich hoffe darauf, dass irgendwann alle – staatliche Institutionen, die Wirtschaft, der private Nutzer – sich Leitplanken geben, innerhalb derer man sich im Internet bewegt. Alt-Bundespräsident Prof. Dr. Roman Herzog, seit knapp einem Jahr Schirmherr des DIVSI, hat diesen Gedanken bereits bei seiner Amtsübernahme geäußert. Er sprach von einem Digitalen Kodex.
Unser Institut ist jetzt dabei, diese Idee zu konkretisieren. Dabei sollen eine Reihe grundsätzlicher Gedanken beantwortet werden: Brauchen wir neue soziale Regeln, die untereinander gelten sollen? Lässt sich verbindlich festlegen, wie man künftig miteinander umgeht, um Internet-Missbrauch auszuschließen? Welche Verantwortung sollen Nutzer, Unternehmen und der Staat in der digitalen Welt künftig übernehmen? Sind neue soziale Spielregeln fern von rechtlicher Regulierung in der Gesellschaft erforderlich?
Ich erwarte von den politisch Verantwortlichen der nächsten Jahre, dass auch sie sich endlich seriös diesem gigantischen Fragenberg zumindest nähern. Und ich bin froh, dass wir einen Bundespräsidenten haben, der hier deutliche Zeichen setzt und sich nicht mit lapidaren Antworten abspeisen lässt.