Von Dr. Silke Borgstedt
Alle Meinungsführer betonen, dass das Internet in immer mehr Lebensbereichen an Bedeutung gewinnt und sich Online- und Offline-Sphären dabei zunehmend durchdringen, so dass man diese beiden „Zustände“ immer weniger voneinander unterscheiden kann.
In diesem Zusammenhang erscheint es durchaus plausibel, dass viele Akteure das Problem digitaler Gräben nicht als Herausforderung sehen, sondern als eine Situation, die sich von allein auflöst. Dies geschieht aber nicht etwa durch die demographische Entwicklung oder eine digitale Bildungsexplosion. Dies geschieht vielmehr durch die Tatsache, dass die Menschen schon in kurzer Zeit nicht mehr „ins Internet“ gehen (müssen), weil die meisten Alltagshandlungen ohnehin online gesteuert sind. Die Tatsache, online zu sein, bedeutet immer weniger, einen Computer hochzufahren und sich irgendwo einzuwählen.
Online zu sein wird demnach zu einer Selbstverständlichkeit und ist keine Aktivität oder Zustandsbeschreibung mehr, so wie man auch nicht bewusst „im Stromnetz“ ist oder „die Wasserleitung benutzt“. Es ein System, das im Hintergrund schnurrt und nur auffällt, wenn es ausfällt. Den Menschen ist entsprechend kaum bewusst, wie weitreichend sie eigentlich digitalisiert sind.
Die Internet-„Nutzung“ selbst wird somit zunehmend unsichtbar, da sie immer weniger als Mensch-Maschine-Kommunikation erfolgt, sondern auf untereinander vernetzte Geräte zurückgegriffen wird. Im „Internet der Dinge“ wird vermeintlich nur ein Auto gestartet, aber in Wirklichkeit der Bordcomputer angeworfen.
Die Gespräche mit Meinungsführern aus Politik/Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Medien und Wissenschaft haben gezeigt, wie facettenreich, konfliktgeladen und leidenschaftlich die Chancen und Risiken des Internets debattiert werden. Dabei geht es nicht nur um konkret zu verhandelnde Positionen. Häufig geht es zunächst einmal darum, eine gemeinsame Sprache zu finden und miteinander „auf Augenhöhe“ zu diskutieren. Der Diskurs ist teilweise gelähmt durch gegenseitig unterstellte mangelnde Kompetenzen und jeweils eigene Priorisierungen und Ziele; gleichzeitig wird ein enormer Zeitdruck empfunden, Verantwortlichkeiten verbindlich zu verteilen, um die bestehende Patt-Situation aufzulösen.
Eine Gesamtverantwortung für „das Internet“ wird strukturell weder als möglich betrachtet noch gewollt. Die Lösung besteht somit darin, die Verantwortung zu großen Teilen an den Nutzer weiter zu reichen. Zwar wird betont, dass es Grenzen der Eigenverantwortung gibt; wo diese aber beginnen, verbleibt im Unklaren und ist Teil der „Verhandlungsmasse“ im aktuellen Netz-Diskurs. Die Politik sieht ihre Aufgabe in der Schaffung eines Rechtsrahmens, um eben diese Verantwortungsverteilung zu definieren, nimmt aber ein Umsetzungsproblem aufgrund der aktuellen „Kräfteverhältnisse“ (Unternehmen vs. Politik) und der begrenzten lokalen Reichweite von Entscheidungen wahr. Zudem ist sie den Geschwindigkeiten der analogen Demokratie unterworfen.
Marktführende Unternehmen prägen die Verhaltensregeln Nahezu alle Meinungsführer aus Politik/Verwaltung, Medien, Zivilgesellschaft und Wissenschaft sehen privatwirtschaftliche Unternehmen klar als Treiber aktueller Entwicklungen im Netz. Unternehmen sind damit nicht nur Akteure, die Angebote bereitstellen, sondern auch diejenigen, die die Regeln bestimmen und kontinuierlich verändern. Dies wird zunehmend relevant, da immer mehr Bereiche onlinebasiert sind und verschiedene Anbieter zu Infrastrukturdienstleistern werden, zu denen es kaum noch Alternativen gibt. Auffallend ist hierbei, dass fast alle Meinungsführer aus diesen Sektoren eine deutliche Konzentration auf nur wenige globale Player wahrnehmen, die das Netz „unter sich aufgeteilt haben“. Das heißt, es wird klar unterschieden zwischen Wirtschaft in der Gesamtheit und „den ganz großen Vier“.
Meinungsführer aus der Wirtschaft betonen hingegen die „Macht des Konsumenten“, ohne die sie gar nicht erfolgreich agieren könnten. Sie sehen den eigenen Einflussbereich als Ergebnis von Angebot und Nachfrage auf einem hart umkämpften Markt, der Gefahr läuft, durch zu viele Regelungen eingeschränkt zu werden. Aus ihrer Sicht geht dies zu Lasten des Nutzers, der lernen müsse, selbständig zu agieren und nicht vor sich selbst beschützt werden sollte.
Die folgende Abbildung veranschaulicht die jeweiligen Beziehungen der Akteure untereinander:
Wirtschaft und Politik sind somit die prominentesten Einflussgrößen. Sie stehen im Zentrum und sind die wichtigsten Bezugspunkte für die anderen Akteure. Die Art und Weise, wie Politik und Wirtschaft „das Netz aushandeln“ und wer jeweils die Oberhand hat, wird insbesondere von den Medien, aber auch von der Wissenschaft kontinuierlich verfolgt. Vertreter der Zivilgesellschaft haben gleichsam beide Akteure im Blick und sind Berater und Impulsgeber für die Politik (aber auch kritische Korrektoren), da für sie vor allem die Rechte und Freiheiten der Bürger im Mittelpunkt stehen, die sie durch den Staat gewahrt sehen möchten. Vertreter der Zivilgesellschaft stehen innerhalb des aktiv gestaltenden Kerns der Netz-Entscheider, da sie sich als integralen Teil der Netzkultur betrachten. Medien und Wissenschaft stehen außerhalb des Systems, sie beobachten und ordnen ein. Die Wissenschaft betrachtet ihre eigene Rolle allerdings deutlich aktiver: Sie möchte beraten, mahnen und Aufgaben an Wirtschaft und Politik verteilen, wird von diesen aber nicht gesehen. Die Spannungsverhältnisse zwischen Politik und Wirtschaft im Internet-Diskurs ähneln in ihrer Struktur anderen gesellschaftlichen Konfliktfeldern. Auch bezüglich Finanzkrise oder Energiewende kreisen die Entscheidungen rund um Regulierung, Selbstverpflichtung, Kostenverantwortung und Bürgerinteressen. Die Debatte um Vertrauen und Sicherheit im Internet kann somit auch als symptomatisch für das Verhältnis von Wirtschaft und Politik betrachtet werden.
Das kleine Zeitfenster für grundlegende Weichenstellungen in punkto Vertrauen und Sicherheit im Internet ist vor allem dadurch bedingt, dass es „das Internet“ nicht mehr lange geben wird. Aus diesem Grund kann man gar nicht mehr vom „Internet an sich“ sprechen, sondern muss alle Themenbereiche und Aufgabenfelder künftig immer auch in ihrer Online-Dimension denken. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es den Akteuren kaum möglich und sinnvoll erscheint, Spannungsverhältnisse wie z.B. Sicherheit vs. Freiheit oder Vertrauen vs. Kontrolle pauschal für das Internet als Ganzes zu definieren. Das bedeutet aber auch, dass es immer schwieriger wird, für den Verhandlungsraum „Internet“ generell gültige Regelungen und gegenseitige Vereinbarungen zu treffen.
Dies zeigt umso mehr, dass die Entwicklungen im „Kampf um das Internet“ einen wesentlichen Einfluss darauf haben, wie wir in Zukunft leben werden und welche Rolle die digitale Infrastruktur darin spielt. Die thematisierten Konfliktfelder machen deutlich, dass sich der Diskurs von einer rein technologischen Perspektive zunehmend zu einer Frage nach der „digitalen Kultur“ bewegt.
Es geht im Unterschied zu vorausgehenden technologischen Revolutionen nicht nur darum, wie neue „Lebensvereinfachungen“ sinnvoll in die bestehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen integriert werden können, sondern um die Definitionsmacht für zentrale Werte einer Gesellschaft. Die Langwierigkeit und Komplexität demokratischer Entscheidungsprozesse und die notwendige Fokussierung auf die nationalstaatliche bzw. europäische Ebene lassen die Spielräume für die Politik als begrenzt erscheinen. Gleichzeitig wird – insbesondere seitens der Bevölkerung – gerade bei der Politik ein großer Teil der Verantwortung für Vertrauen und Sicherheit im Internet gesehen.
Aktuell wirkt im Internet jedoch die normative Kraft des Faktischen: Wer schon mal da ist und sich etabliert hat, bestimmt die Spielregeln – denn dort, wo Freiräume existieren, kann man viel gestalten.