1. Privatsphäre im digitalen Zeitalter

Die digitale Revolution schreitet so rasant voran, dass unsere Sprache manchmal der Realität hinterherhinkt: So ergibt der Ausdruck „ins Internet gehen“ heute kaum noch Sinn, denn das Internet ist zur Infrastruktur fast aller unserer alltäglichen Aktivitäten geworden: Kommunikation, Information, Einkauf, Unterhaltung, Kontoführung, politische Partizipation, Organisation, Jobsuche und vieles mehr finden heute in virtuellen Umgebungen statt, in denen wir mit unseren Profilen auch dann präsent bleiben, wenn wir gerade „offline“ sind. Wer ein Smartphone mit sich führt, ist permanent „online“.

Fast alle Wirkungen des Internets leiten sich daraus ab, dass es hilft, die Grenzen von Raum und
Zeit zu überwinden. Schon in den 1950er-Jahren, als Telefon und Fernseher in die Haushalte kamen, konstatierte der Schriftsteller Max Frisch: „Wir sind Fernseher, Fernhörer, Fernwisser.“ Das gilt für die digitale Gesellschaft erst recht, vielleicht mit der Ergänzung, dass wir auch noch „Fernhandler“ geworden sind. Dies bedeutet einerseits eine ungeheure Ausweitung unserer individuellen Autonomie, was sicherlich auch die Beliebtheit des Internets und seiner digitalen Applikationen erklärt. Auch die digitale Wirtschaft „brummt“ und schafft Innovationen, Wachstum und Arbeitsplätze (vgl. Podesta 2014).

Aber wir sind auch verwundbar geworden. Unsere digitalen Existenzen weiten sich im virtuellen Raum ungeheuerlich aus, denn bei jeder digital mediatisierten Aktivität werden personenbezogene Daten gesammelt und gespeichert, oft in fremden Staaten. Es wird immer schwieriger, jene Informationen, die unsere Identität konstituieren, noch selbst kontrollieren zu können. Der vollständige Rückzug aus den digitalen Netzen ist keine Option mehr, man kann sich darin sprichwörtlich verfangen.

Vor allem kann man auf eine Art und Weise beobachtet und entblößt werden, wie das in vordigitaler Zeit undenkbar war, denn das „Fernwissen“, und zunehmend auch das „Fernhandeln“, findet auch in umgekehrter Richtung statt. Im Netz kursiert eine Karikatur, in der ein Nutzer auf den Bildschirm vor sich starrt, der die Linse eines riesigen Teleskops ist. Wer heute über eine Browser-Suche die weite Welt recherchiert, der muss damit rechnen, dass jemand anderes zeitgleich und gewissermaßen den Informationsfluss aufwärts tiefe Einblicke bis in unsere Psyche nimmt und aufgrund dieser Informationen entscheidet, welche Preise, Dienste oder Möglichkeiten wir bekommen oder eben nicht.

Die Digitalisierung hat noch lange kein Ende erreicht. Derzeit stehen wir an der Schwelle zum „Internet der Dinge“, wodurch sich die Menge der freigesetzten personenbezogenen Informationen noch potenzieren wird. Die Folgen betreffen nicht nur unsere sozialen Beziehungen; hier kann am ehesten mit flexiblen Anpassungen an die neue Lebenswelt gerechnet werden. Weitaus problematischer ist, dass dem Internet dicht auf den Fersen in der Regel der Markt und der Staat folgen, also Gewinn- und Herrschaftsinteressen. Die Privatsphäre, bislang wesentliches Element einer gesellschaftlichen Machtbalance zwischen Individuen, Wirtschaft und Staat, ist dabei hinderlich, sie wird von Wirtschaft und Staat mehr oder weniger gezielt unterlaufen: „Collective investment in the capability to fuse data is many times greater than investment in technologies that will enhance privacy“ (Podesta 2014: 54).

Diesem Ungleichgewicht kann eigentlich nur durch neue Regeln begegnet werden. Tatsächlich ist die digitale Revolution seit etwa einer halben Dekade, und besonders seit den Snowden-Enthüllungen im Jahr 2013, zu einem kontroversen politischen Thema geworden. Einerseits haben Staaten ihre digitalen Überwachungskapazitäten weiter ausgebaut, was insbesondere für die Länder des globalen Südens gilt. Gleichzeitig ist aber auch der Widerstand gewachsen. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem „Google-Urteil“ das „Recht auf Vergessenwerden“ geschaffen und auch die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung vorerst gestoppt. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) hat eine Resolution zum Thema „Privacy In The Digital Age“ verabschiedet. Das EU-Parlament hat seinen Entwurf für eine EU-Datenschutz-Grundverordnung beschlossen, während der EU-Ministerrat noch über einen eigenen Entwurf verhandelt.

Neu ist auch, dass Bürgerrechtsgruppen und Netzaktivisten sich 2014 erstmals oder mit neuer Energie für ein digitales Menschenrecht auf Privatsphäre ausgesprochen haben. Zwar reicht die wissenschaftliche Beschäftigung mit Privatsphäre sehr viel weiter zurück: Als Startschuss gilt die 1890 vorgetragene Forderung eines „Right To Be Let Alone“ durch die beiden amerikanischen Juristen Samuel Warren und Louis Brandeis; die breite Öffentlichkeit wird seit der Ausbreitung der sozialen Medien (Facebook wurde 2004 eingeführt) durch einen teils recht alarmistischen Diskurs vor der digitalen „Zerstörung der Privatsphäre“ gewarnt; wenig später kam die Sorge um die Bürgerrechte dazu. Vor diesem Hintergrund stellt die Forderung nach einem digitalen Menschenrecht auf Privatsphäre eine weitere Eskalationsstufe im Privatsphärendiskurs dar.

Der Ruf nach einem Menschenrecht ist eine moralische Forderung mit drei Ausrufezeichen. Er reflektiert das Gefühl, dass ein großes moralisches Übel zu weit um sich greift, gewissermaßen endemisch geworden ist. „Die Nadel des moralischen Kompasses unserer Zeit zittert“, so Dave Eggers, der Autor des Bestsellers „The Circle“; „seit zehn Jahren sind wir in der Phase, in der sie sicheren Norden sucht.“ So mancher Kommentator artikuliert den Eindruck, dass der Mensch durch die Digitalisierung aus dem Mittelpunkt der Gesellschaft verdrängt wird. Die Forderung nach Menschenrechten ist die logische Antwort darauf: Menschenrechte schützen Individuen vor anderen Individuen und Institutionen, sie ermächtigen sie zu einem selbstbestimmten Leben (Mahoney 2008: 154). Ein digitales Menschenrecht auf Privatsphäre soll helfen, die gesellschaftliche Machtbalance im Lot zu halten, und ist insofern letztlich auch ein politisches Projekt, das gegen Widerstände durchgesetzt werden muss.

Vor diesem Hintergrund möchte die vorliegende Studie zwei Dinge leisten. Erstens soll die Forderung nach einem neuen digitalen Menschenrecht auf Privatsphäre zum Anlass genommen werden für eine ausführlichere Reflexion über die ethische Problematik der Privatsphäre im digitalen Kontext. Informationen bedeuten Einfluss, und so verschieben sich in der digitalen Revolution die Interessen der Akteure und die Art und Weise, wie man sich gegenseitig schadet und nützt. Die dabei auftretenden ethischen Konflikte bedürfen einer Erklärung, jedenfalls wenn man die normative Prämisse teilt, dass der Maßstab der Informationsgesellschaft letztlich im Wohl der Menschen liegt.

Für diesen Zweck wird die philosophische und informationsethische Literatur über die Privatsphäre aufgearbeitet, freilich unter dem Gesichtspunkt, das Feld der ethischen Probleme abzustecken, und weniger, den wissenschaftlichen Diskurs umfassend wiederzugeben. Es geht in diesem Kontext auch nicht darum, konkrete politische Handlungsempfehlungen zu generieren, etwa zu einer fairen Balance individueller und wirtschaftlicher Interessen.1

Zweitens sollen im empirischen Teil die im transnationalen Aktivistendiskurs vorgetragenen Forderungen nach einem neuen digitalen Menschenrecht auf Privatsphäre aufgegriffen, geordnet und zumindest in Ansätzen auch bewertet werden. Die Analyse konzentriert sich dabei auf etwa zehn kollektive und einzelne Aktivisten, was zwar eine kleine Zahl ist, aber genügt, um einen hinreichenden Überblick über den Diskurs und die darin artikulierten Positionen zu geben.

Grundsätzlich lassen sich zwei Diskursfelder unterscheiden: In dem einen geht es unter Bezugnahme auf bereits existierendes Völkerrecht zum Schutz der Privatsphäre um die Kritik der staatlichen Massenüberwachung, wie sie durch Snowden bekannt wurde; im anderen sind, eher fern völkerrechtlicher Normen, die Wirtschaftsunternehmen das Ziel der Forderung nach einem neuen digitalen Menschenrecht. Die Berücksichtigung beider Felder scheint mir wichtig, weil erstens die Big-Data-Problematik in beiden Feldern ähnlich ist, weil zweitens die verschiedenen inhaltlichen Ansätze sich gegenseitig befruchten können und weil es drittens am Ende auch nur ein neues digitales Menschenrecht geben wird, jedenfalls sofern es überhaupt zu einer ‚Novellierung‘ des einschlägigen Völkerrechts kommt.

  1. Das Thema eines Menschenrechts legt uns auf eine Schutzperspektive in Bezug auf den Menschen fest – politische und wirtschaftliche Interessen sind aus diesem Blickwinkel notwendig sekundär. Wie viel Privatsphäre letztlich angemessen ist, d.h. wie stark dafür z.B. wirtschaftliche Interessen eingeschränkt werden dürfen, das ist eine Frage, die gesellschaftlich ausgehandelt werden muss. []